Warum die Konflikte im Osten der Demokratischen Republik Kongo immer weitergehen – und warum die Welt sie nicht versteht. Eine Analyse von Dominic Johnson.
Es sind scheinbar immer gleiche Nachrichten, die uns aus dem Osten der Demokratischen Republik Kongo erreichen: Menschen fliehen vor Milizen, Rebellen und Soldaten; Vergewaltigungsopfer landen in Kliniken; Armeeoffensiven gegen bewaffnete Gruppen gehen mit Siegesmeldungen einher, die aber offensichtlich nicht zum Frieden führen.
Die Kivu-Provinzen der DR Kongo, samt angrenzenden Teilen von Nachbarprovinzen, sind Dauerkriegsgebiet. Und sie sind in der internationalen Wahrnehmung eine Region der angeblichen Superlative: der blutigste Konflikt der Welt seit 1945; die größten Vorkommen der Rohstoffe, aus denen Handys gemacht werden. Nur: Nichts davon ist wahr. Aber das Elend ist trotzdem Realität.
Jedes Jahr wendet sich die militärische Aufmerksamkeit im Ostkongo einer anderen bewaffneten Gruppe zu. Dieses Jahr ist die ruandische Hutu-Miliz FDLR (Forces Démocratiques de Libération du Rwanda) an der Reihe. 2014 war es die als islamistisch bezeichnete ugandische Rebellengruppe ADF (Allied Democratic Forces). In den Jahren 2013 und 2012 ging es um die kongolesische Tutsi-Armee M23 (Mouvement du 23 mars). 2011 war Wahljahr im Kongo – inklusive Wahlbetrugsvorwurf und Proteste; 2010 ging es um Teile der Regierungsarmee selbst und ihre Verwicklung in Mineraliengeschäfte. Im Jahr 2009 wurde der M23-Vorgänger CNDP (Congrès National pour la Défense du Peuple) besiegt, dessen charismatischer Führer Laurent Nkunda die Region Kivu in den Jahren 2008 und 2007 in Atem gehalten hatte.
Rückblick. Und so lässt sich die Kette der Konflikte jahrzehntelang immer weiter zurückverfolgen, wie Jahresringe, bis in eine Zeit, die die mehrheitlich minderjährige Bevölkerung der Region nicht mehr aus eigener Erfahrung kennt: die Ära der straffen Diktaturen vor den 1990er Jahren, als Kongo noch Zaire hieß, Gewaltherrscher Mobutu Sese Seko fest im Sattel saß und neben ihm der ruandische Autokrat Juvénal Habyarimana und die burundischen Militärherrscher Pierre Buyoya oder Jean-Baptiste Bagaza.
Im Blick zurück erscheint diese Zeit der Willkürherrschaft und Rechtlosigkeit manchen älteren Kongolesinnen und Kongolesen als eine goldene Ära der Stabilität, in der immerhin jeder wusste, woran er war. Kongo – bis 1997 Zaire – erschien damals auch internationalen Beobachterinnen und Beobachtern als Land der unbegrenzten Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, in dem die einfachsten Dinge scheiterten und die verrücktesten Dinge funktionierten, anders als in den straff regierten kleinen Nachbarländern. Die Villen in der Kivu-Region waren größer, die Geschäfte mutiger und das Leben abenteuerlicher.
Die Bevölkerung der Kivu-Provinzen von heute lebt in den Ruinen der damaligen Zeit; in wuchernden Millionenstädten mit einer auf einen Bruchteil der Bevölkerung ausgelegten Infrastruktur oder in Bergregionen, aus denen die meisten früheren Straßenverbindungen und althergebrachten Verdienstmöglichkeiten verschwunden sind, in denen die Menschen auf Subsistenzwirtschaft und Selbstschutz zurückgeworfen wurden. Es ist auch ohne Kämpfe ein Zustand der Dauerkrise, die alle Lebensbereiche umfasst und der keine langfristige Lebensplanung ermöglicht, schon gar nicht für die Zukunft der eigenen Kinder. Der zynische kongolesische Spruch dafür lautet, man habe eine Lebenserwartung von 24 Stunden, die immer wieder verlängert wird – der Mensch als ewige Eintagsfliege, sozusagen.
Globale Aspekte
Angst vor Instabilität
Aufgrund seiner hochwertigen Vorkommen an militärisch nutzbaren Erzen ist der Kongo von strategischem Interesse. Die Angst, dass Kongos Rohstoffe bei der Unabhängigkeit 1960 in sowjetische Hände fallen könnten, bewog den Westen damals zur Ermordung des Freiheitshelden Patrice Lumumba sowie zur Unterstützung der Mobutu-Diktatur 1965-97.
Viele KongolesInnen sind noch immer davon überzeugt, dass ihr Land wegen seiner Rohstoffe begehrt ist. In Wahrheit ist es eher die Angst vor Instabilität: Nachbarländer sehen den Kongo als Rückzugsgebiet für bewaffnete Gruppen und wollen dem durch politische Einflussnahme begegnen.
Präsident Joseph Kabila, der seit 2001 regiert, wurde anfangs stark von den USA und Frankreich gestützt. Aber er hat den Kongo nicht wirtschaftlich interessant genug gemacht, dass daraus spürbare Rivalitäten entstehen. Er spielt ausländische Partner gekonnt gegeneinander aus, was Investoren verschreckt. D. J.
Keine einfache Lösung. Die Gründe für den Niedergang sind so vielfältig und unentwirrbar miteinander verknotet, dass es keine einfache Lösung gibt. Da ist zum einen der Versuch, die Mobutu-Diktatur in Zaire zu überwinden und im Kongo ein demokratisches Staatswesen zu errichten. Rebellenführer Laurent-Désiré Kabila, der Mobutu 1997 mit der Waffe bezwang und 2001 durch seinen bis heute regierenden Sohn Joseph Kabila ersetzt wurde, hat keine rechtsstaatliche Demokratie aufgebaut. Seinen Wahlsieg 2011 gegen den historischen Anführer der Demokratiebewegung Zaires, Etienne Tshisekedi, verdankt er massiver Wahlmanipulation. Kabilas Generäle sind tief in schmutzige Geschäfte verwickelt. Der kongolesische Staat geriert sich vor allem im Osten allzu oft als rechtsfreier Raum, der weder Sicherheit noch Entwicklung bietet.
Ruanda. Da ist zum Zweiten das Übergreifen von Konflikten aus angrenzenden Staaten, allen voran aus Ruanda, auf kongolesisches Gebiet. Dies ist der Hauptgrund dafür, warum gerade der an Ruanda angrenzende Ostkongo Kern der bewaffneten Konflikte der vergangenen zwei Jahrzehnte ist.
Die schwierigen Beziehungen zwischen der DR Kongo und Ruanda haben viel mit dem Hutu-Tutsi-Konflikt in Ruanda zu tun. Der Ostkongo gehört zum Siedlungsgebiet sowohl von Hutu als auch Tutsi. Zudem retteten sich seit der Kolonialzeit immer wieder Angehörige beider Gruppen vor Verfolgung über die Grenze.
Ein Auslöser des ersten Kongo-Krieges (1996-1997) war der Genozid in Ruanda: Erst flohen 1994 die Armee und die Hutu-Milizen, die drei Monate lang in Ruanda einen Völkermord an den Tutsi verübt hatten, vor vorrückenden Tutsi-Militärs nach Zaire. Dann kam 1996 die Armee von Ruandas neuem Tutsi-Präsidenten Paul Kagame hinterher und bekämpfte die ruandischen Hutu-Soldaten im Nachbarland, wobei sie nebenbei auch Laurent-Désiré Kabila an die Macht in der DR Kongo brachte.
Ab diesem Zeitpunkt wird es wirklich kompliziert: Denn nun, 1998, brach Kabila mit Ruanda, um sich im eigenen Land zu halten. Er verbündete sich mit den ruandischen Hutu-Soldaten, den Erzfeinden seiner einstigen Unterstützer in Ruanda, gegen die abtrünnigen Teile der kongolesischen Armee. Diese Abtrünnigen unter Führung von Tutsi-Generälen blieben weiterhin Ruanda treu. Mit ruandischer Hilfe hielten sie im Rahmen der Rebellenbewegung RCD (Rassemblement Congolais pour la Démocratie) den Ostkongo unter ihrer Kontrolle.
Nachdem Ruandas Armee 2002 Kongo verließ, machten sich allerdings die ruandischen Hutu-Kämpfer – mittlerweile als FDLR organisiert und von Kabila gestützt – wieder in den Kivu-Provinzen breit. Das wiederum bewog wichtige Tutsi-Generäle der RCD dazu, sich dem innerkongolesischen Friedensprozess zu verweigern und ihre eigenen militärischen Strukturen zu pflegen, zunächst die CNDP, dann die M23. Dies ist zweifellos die zentrale Dynamik hinter den endlosen (Bürger-)Kriegen, die die Kivu-Provinzen auch seit dem Friedensschluss für ganz Kongo im Jahr 2003 heimsuchen.
Lokale Machtkämpfe. Und da ist zum Dritten die permanente Rivalität zwischen widerstreitenden lokalen Machtcliquen, ein Kampf, der mit Hilfe und zugleich auf dem Rücken der lokalen Bevölkerung ausgetragen wird. Gewalt zwischen ethnisch organisierten Milizen gab es im Ostkongo, schon bevor 1994 die Hutu-Kämpfer aus Ruanda einfielen. Gegenüber einem als Gewaltapparat auftretenden Staat, ob geführt von einer „ordentlichen“ Regierung im rund 1.600 Kilometer entfernten Kinshasa oder von einer Rebellenregierung im nahen Goma, haben sich die Menschen der Kivu-Provinzen immer auf sich selbst verlassen. Sie pflegen ihre eigenen Wirtschaftsverbindungen und sichern diese durch eigene militärische Kräfte ab. In Kivu werden die Konflikte untereinander mit eigenen Armeen ausgetragen, von Leuten, die sich untereinander vertrauen.
Diese dritte Kriegsdimension wird oft verkannt. Die internationale Politik gegenüber Ostkongo beschränkt sich meist auf die ersten zwei Ebenen. Sie geht daher davon aus, Schlüssel zum Frieden in Kivu wären eine gelungene Demokratisierung im Kongo insgesamt sowie ein Ende des Einflusses der ruandischen Politik. Beide diese Ziele sind wünschenswert, aber sie reichen allein nicht aus.
Gerade durch die jahrzehntelangen Kriege hat sich in Kivu inzwischen eine eigene Weltsicht entwickelt. Kivus Eliten – die sich meist ethnisch sortieren, entlang der großen Volksgruppen der Banande, Bashi, Banjaruanda (getrennt nach Hutu und Tutsi) und Babembe sowie der vielen kleineren ethnischen Gruppen – instrumentalisieren tatsächliche oder vermeintliche Nähe zu den Regierungen in Kinshasa und in Ruanda jeweils nach Bedarf. Sie scharen die eigene Bevölkerung um sich gegen den Nachbarn und pflegen Klientelpolitik, was ihnen durch das absolute Elend, in dem die meisten Menschen leben, leicht gemacht wird.
Alle drei Kriegsdimensionen zusammengenommen ergeben ein sehr viel komplexeres Bild, als es die geläufigen Analysen bieten. In der internationalen Beschreibung der Konflikte Ostkongos hat sich ein Bild von „Rebellen“ als „böse“ verbreitet: Alles, was Rebellen nütze, sei für die Bevölkerung schädlich. Das trifft aber nicht die Realität einer Gesellschaft, die sich keineswegs mit dem eigenen Staat identifiziert und in der Selbstschutz zentral für das Überleben ist. Die „gute“ Regierungsarmee besteht überdies fast ausschließlich aus ehemaligen „bösen“ Rebellen, und viele Rebellen waren auch schon einmal Regierungssoldaten. Es sind vielfältige und unheilvolle private Allianzen zwischen Gewaltakteuren aller Fraktionen entstanden.
Mythen. Eine weitere unzulässige Vereinfachung ist die, wonach sich Ostkongos Konflikte um Rohstoffe drehen würden, die, als „Blutmineralien“ verkauft, die Warlords am Leben hielten. Entgegen vielfältiger Behauptungen sind die Kivu-Provinzen nicht besonders rohstoffreich, schon gar nicht im internationalen Vergleich. Die meisten Mineralienvorkommen sind extrem schwer zugänglich und zu klein für eine profitable Ausbeutung jenseits der Überlebenswirtschaft von Bäuerinnen und Bauern, die in Zeiten der Unsicherheit anfangen zu schürfen. Der Abbau von Coltan, das das in der Elektronikindustrie begehrte Element Tantal enthält, ist nicht das Rückgrat der ostkongolesischen Wirtschaft, sondern ein finanziell eher unbedeutendes Nebenprodukt der kriegsbedingten Unsicherheit in ländlichen Regionen. Keine bewaffnete Gruppe in Kivu ist vom Rohstoffexport abhängig. Die im Bergbausektor anzutreffenden Probleme von Korruption, systematischem Diebstahl und Privatisierung staatlicher Einnahmen, gegen die inzwischen umfangreiche internationale Zertifizierungsprogramme auf die Beine gestellt worden sind, bestehen in anderen Wirtschaftsbereichen genauso.
Zahlenspiele. Schließlich ist die inzwischen weltweit unkritisch wiedergegebene Behauptung, der Konflikt im Kongo sei der „mörderischste“ auf der Welt seit dem Zweiten Weltkrieg, ohne Grundlage. Sie beruht auf methodisch extrem umstrittenen Erhebungen der US-Gruppe „International Rescue Committee“, die in den schlimmsten Kriegszeiten 1999-2000 begann, stichprobenartig Haushalte im Ostkongo nach ihren Todesfällen zu befragen. Die sich ergebende Häufigkeit wurde mit der durchschnittlichen Sterberate in ganz Afrika südlich der Sahara verglichen, der Unterschied auf die Gesamtbevölkerung Ostkongos hochgerechnet und zur Zahl der Kriegstoten erklärt. In weiteren Untersuchungen wurde dies immer weiter fortgeschrieben, bis aus ursprünglich 1,7 Millionen Toten über fünf Millionen geworden waren, mit einem Anstieg von 1.000 pro Tag. Das hat nichts mehr mit der Realität zu tun. Würde man diese Methode auf andere Kriegsgebiete anwenden, käme man vermutlich in jedem Bürgerkrieg, der mehrere Jahre andauert, auf mehrere Millionen Opfer, da ein großer Anteil der ohnehin zu erwartenden natürlichen Todesfälle mitgezählt wird.
Legenden wie die „fünf Millionen Toten“ und der „Rohstoffkrieg um Blutmineralien“ bedienen ein einfaches Schema: Sie entrücken den Ostkongo aus der Welt des Normalen und Rationalen in einen Bereich, der sich der Vorstellungskraft und damit auch der Handlungsmöglichkeit entzieht. Möglicherweise kommt das manchen AkteurInnen ganz gelegen, denn es lässt den Krieg als Naturzustand erscheinen, gegen den man gar nichts machen kann. Aber in Kivu leben keine Höllengestalten und Außerirdischen, sondern Menschen. Manche sind Opfer, manche sind Täter, viele sind im Laufe ihres Lebens sowohl das eine als auch das andere.
Dominic Johnson ist Leiter des Auslandsressorts der deutschen Tageszeitung „taz“ sowie Autor von „Kongo: Kriege, Korruption und die Kunst des Überlebens“, Brandes & Apsel, Frankfurt/Main, 3. erw. Auflage 2014, 264 Seiten, € 24,90.
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