Humanitäre Hilfe will das Leiden von Menschen lindern. Trägt sie aber auch dazu bei, Kriege zu verlängern?
Mit dieser und anderen Fragen beschäftigte sich der Humanitäre Kongress in Wien, berichtet Redakteurin Christina Bell.
Die Zeiten sind schlecht für die humanitäre Hilfe: Diejenigen, die in Krisen- und Konfliktgebiete fahren, um Menschen in besonders verwundbaren Situationen – wie nach Naturkatastrophen, in Epidemien oder während Konflikten – beizustehen, geraten zunehmend selbst ins Kreuzfeuer. 2014 wurden in 126 Fällen humanitäre HelferInnen angegriffen, entführt oder ermordet. Zehn Jahre zuvor gab es nur 64 Übergriffe. Das steigende Risiko war eines der Themen des zum dritten Mal von elf Organisationen der Humanitären Hilfe gemeinsam veranstalteten Humanitären Kongresses, der am 6. März in Wien über die Bühne ging. Kyung-wha Kang, Vertreterin des UN-Büros für Humanitäre Angelegenheiten (OCHA) sprach von einer „Existenzkrise“ der Humanitären Hilfe. Der eigentlich durch das Völkerrecht geschützte humanitäre Raum ist geschrumpft. Neben den Risiken nehmen auch die Einsätze zu. Die Zahl der Menschen in Not hat sich seit 2004 verdreifacht. Die „größte humanitäre Katastrophe aller Zeiten“ wie Kyung-wha Kang die Lage in Syrien nannte, geht bereits ins fünfte Jahr, auch sonst häufen sich die Brennpunkte.
Abgesehen vom düsteren Bild, das die vertretenen ExpertInnen von den alltäglichen Gefahren der humanitären Hilfe zeichneten, gibt es auch strukturelle Probleme: Trotz bester Absichten hat die Hilfe nicht nur positive Folgen. Die letzte Paneldiskussion des Tages widmete sich deshalb einer äußerst kritischen Frage: Verlängert humanitäre Hilfe nicht vielleicht sogar den Krieg?
Fliegengewicht Österreich
Humanitäre Hilfe ist ein Überbegriff für Maßnahmen der Sofort-, Not- und Katastrophenhilfe, bei der die humanitären Prinzipien Neutralität, Unabhängigkeit, Unparteilichkeit sowie Menschlichkeit gelten. Von großen UN-Organisationen über Staaten bis zu NGOs gibt es die unterschiedlichsten Akteure – mit unterschiedlichen politischen Interessen.
Historiker Bertrand Taithe beschreibt Humanitäre Hilfe als Alternative zur Diplomatie, bei der sich kleinere Staaten besonders hervortun könnten. In dem extrem unterfinanzierten Bereich sei es leicht, in einer höheren Gewichtsklasse zu boxen. Österreichs Engagement reicht dafür nicht: 2011 lagen die Pro-Kopf-Ausgaben bei 1,2 Euro, während die Schweiz im selben Zeitraum mit 23,8 Euro ein Vielfaches aufbrachte. Dementsprechend fällt das Urteil der Nichtregierungsorganisationen über die offiziellen Leistungen aus: Der Bereich sei neben „unterdotiert“ vor allem „überbürokratisch“. Um die Bedeutung von Humanitärer Hilfe sichtbar zu machen, haben mehrere Organisationen gemeinsam den Kongress ins Leben gerufen. cbe
Sich hinterfragen. Diese grundlegenden Zweifel sind nicht neu, erläuterte Bertrand Taithe, Historiker an der Universität Manchester und Leiter des dort gegründeten „Humanitarian and Conflict Response Institute“. Bereits 1870 sei zum ersten Mal die Frage gestellt worden, ob die Genfer Konvention den Krieg verlängere, indem sie ihn erträglicher mache. Das sei allerdings so, als ob man einen Arzt frage, ob die Behandlung eine Krankheit verlängere. Die Branche müsse sich nicht unbedingt dieser, aber in jedem Fall kritischen Fragen stellen, so Taithe. Zum Beispiel: Inwiefern trägt humanitäre Hilfe zur Kriegsökonomie bei? In einer prekären Sicherheitslage sei es manchmal unumgänglich, sich mit Warlords zu arrangieren, so der Historiker. Auch gestohlene Hilfsgüter gehören zu den Realitäten der HelferInnen. Ebenso wie die Tatsache, dass Organisationen durch Abgaben Unrechtsregime stützen oder als Entführungsopfer zu Einnahmequellen mutieren. Strategien gegen den politischen Missbrauch gibt es bislang wenige. „Wir versuchen, ein weniger attraktives Ziel zu sein“, fasste Sabine Kampmüller von Ärzte ohne Grenzen das Dilemma zusammen.
Heikle Situationen. Was ist mit dem Risiko, dass die humanitäre Hilfe instrumentalisiert wird? Gegen Ende des Regimes der Roten Khmer in Kambodscha wurden die Flüchtlingscamps an der thailändischen Grenze vom Regime benutzt. „Das war kein Geheimnis“, sagte Taithe. „Aber was wäre die Alternative gewesen?“ Nach dem Völkermord in Ruanda 1994 war es ähnlich, als sich viele TäterInnen in den Camps in Kenia versteckten.
In der Diskussion wurde spürbar, dass es oft keine einfachen Antworten gibt: Wann ist der Zeitpunkt erreicht, an dem die Kompromisse oder Risiken nicht mehr tragbar sind? Als Ärzte ohne Grenzen 2013 aufgrund der Sicherheitslage nach mehr als zwanzig Jahren Somalia verließ, war dies eine der schwierigsten Entscheidungen in der Geschichte der Organisation, konstatiert Kampmüller, da man damit in Kauf nahm, der Bevölkerung nicht mehr helfen zu können.
Offen mit Fehlern umzugehen und aus der Vergangenheit zu lernen sei wichtig, denn abschaffen könne man trotz all der Fallstricke, Kollateralschäden und der vergeblichen Versuche die humanitäre Hilfe nicht, schlussfolgert Taithe. Trotz Ähnlichkeiten mit Don Quijote bleibe die humanitäre Hilfe eine Notwendigkeit. „Weil sie dem nackten Bösen Menschlichkeit entgegensetzt.“
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