Königlicher Held

Von Axel Veiel · · 2000/01

Mohamed VI. übernahm vor einem halben Jahr die Macht in Marokko. Sein Modernisierungskurs wird im In- und Ausland positiv bewertet.

Albert Einstein ist das. Wer sonst versucht da gerade, sich aus dem Rollstuhl auf

das Sofa zu hieven? So sah dieses Genie doch aus. Das Foto ging um die Welt. Dieses ganz und gar unwissenschaftliche Grinsen ist darauf festgehalten, die zerfurchte Stirn, das zerzauste Silberhaar, der dichte Schnurrbart und der Schalk, der aus den Augen blitzt. Nur dass dieser Mann, der sich inzwischen auf dem Sofa niedergelassen hat, nicht die Zunge herausstreckt.

„Ich bin Abraham Serfaty“, stellt er sich vor, als wolle er dem Spuk ein Ende machen. Und jetzt ist es auch wieder klar. Diese Ausnahmeerscheinung verdankt ihren Ruhm nicht physikalischen Einsichten und Erkenntnissen, sondern politischen Überzeugungen und vor allem einer durch Jahrzehnte lange Folter, Haft und Verbannung nicht zu brechenden Zivilcourage. Dass Serfaty nach all dem, was andere Menschen seelisch und körperlich zu Grunde gerichtet hätte, vergnügt auf diesem ausladenden Möbelstück sitzt, ist ein Wunder.

Möglich gemacht hat es Marokkos junger König Mohamed VI., der vor einem

halben Jahr auszog, sein Reich zu modernisieren. Am 23. Juli hatte er nach dem Tod des Vaters das Zepter übernommen. Seitdem ist der neue Herrscher in atemberaubendem Tempo vorangeschritten. Der Monarch besuchte die Berber im

Jahrzehnte lang vernachlässigten Rifgebirge. Er entließ den für Willkürherrschaft und Unterdrückung stehenden Innenminister Driss Basri.

Zahlreiche andere wenig demokratisch gesonnene Würdenträger des Regimes mussten ebenfalls ihren Hut nehmen, angefangen vom Chef der Geheimpolizei

bis hin zum Leiter des staatlichen Fernsehens. Als „König der Armen“ besuchte Mohamed VI. Waisen, Kranke und Behinderte, wohl wissend, dass allein die Sorge für die so lange Vernachlässigten bei wirklich freien Wahlen den Einfluss der Islamisten zu brechen vermag. Ein „König zum Angreifen“ hatte die politische Bühne betreten nach der von distanzierter Kühle geprägten Herrschaft Hassan II.

Im September verfügte der 36-jährige Monarch dann auch die Rückkehr Abraham Serfatys, jenes Mannes, den sein nach zwei Putschversuchen Anfang der siebziger Jahre verunsicherter Vater zum Staatsfeind erklärt hatte. Der gelernte Bergbauingenieur hatte als überzeugter Linker gegen Hassan II. aufbegehrt. Und Serfaty hatte ein Tabu verletzt. Er war gegen die Besetzung der Westsahara zu Felde gezogen.

Der Regimegegner verschwand für 15 Monate in den Kellern des Folterzentrums von Casablanca, wurde 1977 zu lebenslanger Haft verurteilt, saß 17 Jahre im Gefängnis von Kenitra, verbrachte acht weitere im französischen Exil. Und dann geschah eben das Wunder: die Einladung zur Rückkehr in die Heimat, der Empfang auf dem Flughafen von Casablanca durch den Justizminister und den Kabinettschef des Königs, drei Tage im Hilton-Hotel auf Staatskosten, der Umzug nach Mohamedia, in ein Haus am Meer.

Ein Wunder? „Das mag schon sein“, meint der 73-jährige Heimkehrer, während draußen die Wellen gegen den Strand anbranden. Wobei ein Wunder leider nicht genug sei, Marokko brauche viele.

Mit dieser Einschätzung steht Serfaty nicht allein. Soll das Land, wie von Mohamed VI. versprochen, ein moderner demokratischer Staat werden, muss der neue Herrscher eine Revolution von oben anzetteln. Zu ihr gehört für Serfaty, dass die Lüge der Wahrheit weicht. Aufklärung über die Menschenrechtsverbrechen der Mächtigen, fordert er. „Ich will nicht meine Folterer ans Messer liefern, die ich persönlich kenne, sondern diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die foltern ließen“, sagt er.

Um Korruption und Klientelwirtschaft einzudämmen, bedarf es außerdem einer starken Justiz, die sich nicht nur mit den kleinen Gaunern anlegt. Und dann ist da der Kampf gegen die Armut. Während in den Metropolen die Moderne Einzug hält, fällt der Rest des Landes immer weiter zurück.

Außerhalb der großen Städte hat ein Prozent der Familien einen Telefonanschluss. Vier Prozent aller Haushalte besitzen dort ein Auto, zwölf Prozent verfügen daheim über Strom und Trinkwasser. Der Prunk der Paläste und die Misere der Massen, sie prallen in Marokko nach wie vor aufeinander.

Wird Mohamed VI. zum Umverteilen schreiten und sich mit den Eliten anlegen? Ist all das überhaupt Sache des Königs in einem Land, das sich der Demokratie verpflichtet weiß?

„Wir müssen Mohamed VI. helfen.“ Khaled Jamai fordert das in geradezu beschwörendem Ton. Das Halbdunkel der von Kerzen erleuchteten Pizzeria in

einer Seitenstraße Rabats scheint den Ernst der Lage noch zu unterstreichen. „Wir“, das sind für den Patriarchen der nationalkonservativen Istiqlal-Partei die demokratisch gesinnten Politiker, „die begriffen haben, dass die Zeit gekommen ist, um mitzugestalten und nicht mehr nur hinauf zu schauen zum Königspalast“.

Mohamed VI. habe sich bereits weit aus der Deckung gewagt, glaubt Jamai. Wenn er nun auch noch von den Reichen Steuern kassieren und all das im Lande unrechtmäßig Erworbene antasten wolle, sei dies sein Ende. Die an Abhängigkeit und Unterordnung gewöhnten Marokkaner müssten aufhören, nur auf den jungen königlichen Helden zu starren. Sie sollten sich bei der eigenen Nase nehmen, die neuen Freiheiten nutzen, Verantwortung übernehmen und die Demokratisierung der Gesellschaft mitgestalten.

Aber Jamai ist ein einsamer Rufer in der Wüste. Die meisten seiner Landsleute sind sich einig, wer allein das neue Marokko zu errichten hat. „Der neue König natürlich“, sagt Ahmed Drissi, „wer denn sonst? Allah erhalte sein Leben!“ Der 40-jährige Marokkaner steht mitten in Rabat umringt von einer Menschentraube aus Gleichgesinnten. Dem aus Nordmarokko stammenden Berber ist durchaus klar, dass sich der Maghrebstaat nicht von heute auf morgen umkrempeln lässt. „Für mich kommt Mohammed VI. zu spät“, sagt Drissi, „aber meine Neffen und Nichten werden die Nutznießer sein.

Wenn sie erwachsen sind, wird der König die Räubermentalität in den Köpfen der Menschen ausgemerzt haben“. „Marokko“, meint einer der Umstehenden, „ist wie ein Baum, der faule Früchte trägt. Er wird jetzt gefällt, ein neuer gepflanzt und in ein, zwei Jahrzehnten komme die Ernte“.

Aber wer ist dieser sogar noch als Holzfäller bestellte Hoffnungsträger? Fest steht auf alle Fälle, wie er aussieht. Sein Bild schmückt Geldbeutel, Wohnzimmer und Bürostuben. In Rabat hat die Foto-Galerie Sahara ihren Teil dazu beigetragen, dass sich die MarokkanerInnen ein Bild von ihrem Herrscher machen können. In den Ausstellungsräumen am Boulevard Mohamed V. blickt Mohamed VI. aus Dutzenden von Bilderrahmen herab. Der vietnamesische Hoffotograf Linh hat den Monarchen in allen nur erdenklichen Lebenslagen abgelichtet: Mohamed VI. auf goldenem Thron, hoch zu Ross, die Angel in der Hand, im traditionellen Kapuzenmantel, der Djellabah, oder westlich gekleidet, mit kariertem Sakko, Sonnenbrille, Zigarette und Dreitagebart.

„Wie hätten Sie den König denn gern?“ fragt die Verkäuferin. Die Bilder kosten 120 Dirham, 160 Schilling. Für ein Land, in dem der Mindeststundenlohn bei 11 Schilling liegt, ist das nicht wenig. Aber die Nachfrage ist groß. Die Menschen stehen Schlange.

Bleibt die Frage, wessen Geistes Kind dieser junge Mann eigentlich ist, der

aus den Bilderrahmen herabschaut und dessen Worte von seinen Untertanen auf die Goldwaage gelegt und unzählige Male gedeutet werden, auf dass sie Aufschluss geben mögen über die Zukunft des Reiches. Feststeht, dass Mohamed VI. ein dem Westen und Europa zugewandter Herrscher ist. In Nizza studierte der Marokkaner internationales Recht, in Brüssel ließ er sich in die EU-Politik einweisen. Dass der Jurist später über die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und dem Maghreb promovierte, passt genauso ins Bild wie die an belgischen oder spanischen Vorbildern ausgerichtete Lebensweise des Königs.

Mohamed VI. verabscheut Prunk und Protokoll. Er lebt in einer Vorstadt Rabats und fährt wie andere Bürger morgens mit dem Auto zur Arbeit. Dass der König allerdings mit der Demokratie eines Tages so weit gehen und die eigene absolutistisch anmutenden Machtfülle beschneiden könnte, vermag sich in Marokko heute noch kaum jemand vorzustellen. Aber kostbar ist das Erreichte gleichwohl, ganz zu schweigen von der Hoffnung auf all das noch Ausstehende. „Früher haben wir Angst gehabt vor dem König“, sagt Serfaty, „heute haben wir Angst um den König.“

Der Autor ist Nordafrika-Korrespondent mehrerer deutschsprachiger Medien mit Sitz in Madrid.

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