Kleine Idee mit großer Wirkung

Von Dirk Reinhard · · 2008/09

Die Vergabe von Kleinstkrediten hat sich als ein wirksames Mittel zur selbstbestimmten Befreiung aus der Armut bewährt. Mikroversicherungen sind eine Ergänzung dazu. Sie helfen vor allem in Entwicklungsländern einkommensschwachen Menschen bei größeren und kleineren Notlagen und verhindern insbesondere den Rückfall in die Armut.

Der Bedarf wäre riesig: Allerdings hatten nach Erhebungen der amerikanischen Beratungsfirma MicroInsurance Centre Ende 2006 in den 100 ärmsten Ländern der Erde weniger als 100 Mio. Menschen Zugang zu Mikroversicherungen. Allein in Indien schätzt die lokale Regulierungsbehörde für Versicherungen die Anzahl der potenziellen Kunden und Kundinnen auf eine Viertelmilliarde. Vor allem in Entwicklungsländern stellen Krankheiten, der Tod des Ernährers sowie Naturkatastrophen eine existenzielle Bedrohung der Menschen dar.
Eine Mikroversicherung ist im Prinzip nichts anderes als eine herkömmliche Versicherung mit reduziertem Deckungsumfang und deshalb kleiner Prämie. Das besondere Umfeld mit beispielsweise einer unzureichenden Infrastruktur birgt jedoch für die flächendeckende Einführung von derartigen Solidarsystemen zahlreiche Herausforderungen. Insbesondere die im Verhältnis zur Prämienhöhe relativ hohen Transaktionskosten sind ein Problem. Der Aufbau effizienter und kostensparender Verwaltungssysteme ist deshalb unabdingbar, wenn derartige Angebote mit vertretbaren Kosten etabliert werden sollen.
Zahlreiche traditionelle oder informelle Mikroversicherungen sind nicht reguliert oder könnten rechtliche Vorgaben für klassische Versicherungen nicht erfüllen. In mehreren Ländern wurden deshalb besondere rechtliche Rahmenbedingungen eingeführt, die über spezifische Vorgaben gleichzeitig noch die Entwicklung von Mikroversicherungen fördern. So muss in Indien beispielsweise eine jährlich steigende Anzahl von Polizzen im Mikro-Segment verkauft werden. In den Philippinen wurden die Kapitalanforderungen für genossenschaftliche Versicherungssysteme gesenkt.
Besonderes Augenmerk sollte auf die sorgsame Analyse der spezifischen Bedürfnisse, Risiken und Möglichkeiten der Versicherungsnehmer und -nehmerinnen gelegt werden. Haushalte mit geringem Einkommen bewerten den Ausfall desjenigen, der für das Einkommen sorgt, als ihr höchstes Risiko. Gleich darauf folgt Krankheit. Aus diesem Grund sind Lebens- und Krankenversicherungen in den meisten Regionen am stärksten nachgefragt. Naturkatastrophen wie Erdbeben, Stürme, Überschwemmungen oder Dürren zählen ebenfalls zu den oft genannten Top-Risiken, wofür es bislang erst wenige Lösungen gibt. Ein wichtiges Kriterium ist die Einfachheit der Produkte.
Eine Versicherung, die nicht in wenigen Sätzen erklärt werden kann, hat kaum Chancen, sich durchzusetzen. Es sollten deshalb nur einzelne, klar definierte Risiken abgedeckt und komplizierte Ausschlüsse vermieden werden. Die Gestaltung des Produkts muss zudem berücksichtigen, dass die Betroffenen häufig nur unregelmäßige Prämienzahlungen leisten können. Nicht zuletzt sind die allgemein schlechte Datenlage und fehlendes Versicherungswissen sowohl auf der Seite der Anbieter als auch bei Kunden ein Hindernis. Letztere verstehen häufig die Funktionsweise nicht (sog. „insurance illiteracy“) und verwechseln Versicherung mit einer Lotterie oder einem Sparplan.

Die beschriebenen Herausforderungen verlangen nach neuen Ideen. In Südafrika beispielsweise bieten etablierte Versicherungsunternehmen über einen Direktvertrieb vor Ort auch Mikroversicherungen an – zum Teil über ungewöhnliche Vertriebswege wie Lebensmittelläden oder Tankstellen. Im sogenannten „Partner-Agent-Modell“ kooperieren etablierte Versicherungen (Partner) mit einer lokalen Organisation (Agent), beispielsweise einer Mikrofinanzorganisation, die schon Kontakte zur örtlichen Bevölkerung hat. Die Versicherung trägt die Risiken, berechnet die Prämien, bildet die notwendigen Reserven und stellt die Einhaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen sicher. Die lokale Organisation schlägt die Brücke zur betroffenen Bevölkerung, deren Bedürfnisse sie bestens kennt.
Im „Genossenschaftsmodell“ bieten Selbsthilfegruppen, Berufsverbände oder Agrar- und Produktionsgenossenschaften ihren Mitgliedern selbst Produkte an und gründen eine eigene Versicherung. Da es nicht selten an entsprechendem Fachwissen mangelt, ist aber oft die zusätzliche Unterstützung durch Fachleute notwendig.

Institution (aktiv seit)LandAnzahl der VersicherungsnehmerProdukte
VimoSEWA (1992)Indien120.000 (2005)110.000 (2007)Lebens-, Gesundheits-, Sachversicherung
Tata-AIG(2001)Indien13.000 (2005)184.000 (2007)Lebens- und Kapitallebensversicherung
Yeshasvini Trust (2002)Indien1.450.000 (2005)2.210.000 (2007)Krankenversicherung
BRAC MicroHealthInsurance for Poor Rural Women in Bangladesh (2001)Bangladesch12.000 Familien (2004)7.400.000 (2007)Krankenversicherung
Yasiru Mutual Provident Fund (2000)Sri Lanka24.000 (2004)87.000 (2007)Kombinierte Unfall-, Invaliditäts-, Lebens- und Gesundheitsdeckung
ServiPerú (1996)Peru94.000 (2003)209.800 (2007)Kombinierte Kranken- und Beerdigungsversicherung
Pulse Holdings Ltd. (2001)Sambia2.200 (2003)2.695 (2007)Lebensversicherung (in Verbindung mit Mikrokredit)
Christian Enterprise Trust Zambia (2000)Sambia5.000 (2004)4.161 (2007)Lebensversicherung (in Verbindung mit Mikrokredit)
Opportunity Intern. Microinsurance Agency (2002)Weltweit2.700.000 (2005)3.500.000 (2007)Lebensversicherung (in Verbindung mit Mikrokredit),Agro
Quelle: Churchill, Craig: Protecting the poor. Munich, Geneva 2006. Zahlen aus 2007: Münchener Rück Stiftung


Auch wenn die Herausforderungen vielfältig sind, bieten sich doch große Wachstumspotenziale. Die obenstehende Tabelle zeigt die Entwicklung der abgeschlossenen Verträge von beispielhaft ausgewählten Mikroversicherungssystemen.
Obwohl in einigen Fällen die Abschlüsse stagnieren oder leicht rückläufig sind, ist die Mehrheit der Systeme teilweise rasant gewachsen. Tata-AIG hatte 2007 vierzehn Mal mehr Kundinnen und Kunden als 2005, wenngleich das Wachstum von sehr geringem Niveau aus startete. Auch Opportunity International konnte bei guter Ausgangslage die stolze Zahl von 1,2 Millionen Abschlüssen innerhalb von zwei Jahren hinzugewinnen. Der Trend geht insgesamt deutlich nach oben.
Ohne ausreichende Ressourcen, insbesondere zur Finanzierung der Produktentwicklung, wird die weitere Ausbreitung nur schwer vorankommen. Im Jahr 2007 trat die Bill & Melinda Gates Foundation als bedeutende Förderin auch im Bereich Mikroversicherung auf den Plan. Sie wird in den nächsten Jahren mit weit über 50 Millionen US-Dollar zwei wichtige Initiativen substanziell unterstützen: Die Microinsurance Agency ist eine als Vermittler agierende Organisation und hat das Ziel, in den nächsten fünf Jahren über 20 Millionen Menschen mit Mikroversicherungen zu versorgen. Sie wurde vom Mikrofinanznetzwerk Opportunity International gegründet. Die Microinsurance Innovation Facility der ILO (Internationale Arbeitsorganisation der UNO) wird in den nächsten fünf Jahren für 40 bis 50 innovative Mikroversicherungsprojekte jeweils bis zu einer halben Million Dollar Startkapital zur Verfügung stellen und darüber hinaus technische Unterstützung und Forschung fördern. Auch die kommerziellen Versicherer zeigen wachsendes Interesse. Global tätige Rückversicherer wie Schweizer Rück oder Münchener Rück sowie Erstversicherer wie die AIG, Allianz oder Zurich Financial Services engagieren sich bereits im diesem potenziellen Wachstumsmarkt.
Mikroversicherungen stecken noch in den Kinderschuhen. Damit die Konzepte auch in noch größerem Maßstab funktionieren, müssen die zahlreichen Akteure – die betroffenen Menschen, Regierungen, Geber- und Hilfsorganisationen, die Wissenschaft sowie Versicherer – noch enger zusammenarbeiten.

Dirk Reinhard ist stellvertretender Geschäftsführer der Münchener Rück Stiftung. Die Stiftung organisiert in Zusammenarbeit mit der CGAP-Working Group on Microinsurance die jährlich stattfindende internationale Mikroversicherungskonferenz. 2008 findet die Konferenz in Cartagena, Kolumbien statt. Zusammen mit der ILO hat die Münchener Rück Stiftung ein umfassendes Buch über Mikroversicherungen herausgegeben: „Protecting the poor – A microinsurance compendium“.

Links:
Münchener Rück Stiftung: www.munichre-foundation.org
Microinsurance Conference 2008: www.microinsuranceconference2008.org
Microinsurance compendium: www.microinsurancecompendium.org
CGAP Working Group on Microinsurance: www.microinsurancefocus.org

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