KINDERRECHTE

„Meine Zukunft beginnt heute“
Von Peter Strack · · 2009/04

Heuer jährt sich zum 20. Mal die Verabschiedung der UN-Konvention über die Rechte des Kindes. Bis auf zwei Länder – die USA und Somalia – haben alle Staaten der Erde dieses Dokument ratifiziert. Keineswegs sind bisher alle Rechte überall verwirklicht. Es hat jedoch die Erkenntnis deutlich zugenommen, dass Kinder besonderen Schutz brauchen. Und die Einsicht: Nicht über die Köpfe Minderjähriger hinweg, sondern nur mit ihnen gemeinsam kann man ihren Wünschen und Bedürfnissen gerecht werden.

Jedes Jahr am 20. November, dem Tag der Verabschiedung der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, versammeln sich auf den Hügeln von Cerro Norte, einem Armenviertel in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, hunderte bunt verkleidete Kinder und Jugendliche. Unterstützt von Erwachsenen der Nachbarschaftsorganisation SEDEN fordern sie ihre Rechte ein. "Versprich mir kein besseres Morgen – Meine Zukunft beginnt heute!", steht auf Flugblättern und Transparenten. Musik dröhnt. Burschen und Mädchen malen auf selbst gebastelte Lotteriescheine jene Rechte, die ihnen am wichtigsten sind: Das Recht, Eltern zu haben, das Recht auf Leben und eine Wohnung tauchen ebenso häufig auf wie jenes, mit dem Bus fahren zu dürfen. Kein Wunder bei den steilen Wegen im Viertel.
Der fünfjährige Andrés Felipe Chaparro malt es gleich zweimal, ebenso wie das Recht auf einen Vater – so als wolle er ganz sicher gehen, dass das Glück bei diesem Recht nicht an ihm vorüber geht. Aber Andrés reklamiert auch das "Recht auf einen wunderschönen Baum" und darauf, "in der Sonne träumen zu können".
"Die Rechte der Kinder haben Vorrang", steht in einer Zeitung der Nachbarschaftsorganisation mit Bezug auf Artikel 3 der Kinderrechtskonvention. "Die Großen wissen das, und trotzdem geben sie den Armen armselige Lösungen, und den Reichen alles reichhaltig. Das ist soziale Gerechtigkeit." Solche Bitterkeit hat Gründe: Die BewohnerInnen vom Cerro Norte sollen vertrieben werden. Die Hütten stören den Ausblick aus den nahen Hochhäusern. Und mit der Vermietung von Apartments ließe sich mehr verdienen. Selbst eine Initiative der Stadtverwaltung, die Fassaden der Häuser bunt anzumalen, hatte einen Haken: Mit der verbesserten Wohnqualität hätte die Stadt höhere Steuern von den Armen eintreiben können.
Aber auch wenn es zahlreicher Eingaben, Demonstrationen, Sit-Ins oder selbst juristischer Klagen bedurfte: Heute gibt es in Cerro Norte staatlich finanzierte Schulen und Kindergärten, Straßen wurden asphaltiert, damit die Busse ins Viertel kommen, und ihr Zuhause haben die Kinder bislang auch nicht verloren.

Geht man nach der Zahl der Ratifizierungen, ist die UN-Kinderrechtskonvention das bislang erfolgreichste Menschenrechtsdokument. Und so wie in Cerro Norte hat die Konvention zumindest den öffentlichen Diskurs über Kinder verändert. Sie macht aus Schutzbedürftigen, denen man helfen darf, TrägerInnen von Rechten, die es zu erfüllen gilt. Dass Kinder in allen sie betreffenden Belangen Gehör finden müssen, dass sie ihre Meinung frei ausdrücken und sich organisieren dürfen, war eine Neuerung der Konvention. Die wird auch in Cerro Norte zunächst auf Skepsis gestoßen sein: Sind die Kinder dafür schon reif genug? Machen solche Rechte oder das Prügelverbot die kleinen Rabauken nicht noch aufsässiger? Ohnehin gibt es schon genug Probleme mit der Disziplin und gewalttätigen Banden im Viertel. Solche Diskussionen werden überall geführt.
Dabei geht es in der Konvention nicht darum, dass die Kinder die Macht ergreifen sollen. Im Gegenteil, sie nimmt die Erwachsenen in die Pflicht. Aber inzwischen hat man in Cerro Norte erfahren, dass die Probleme gemeinsam mit den Kindern besser zu lösen sind. "Nur Kinder wissen, was Kinder wollen", sagte auch die 12-jährige Hannah, als sie im deutschen Moers "Kinderbürgermeisterin" war – ein eher symbolisches Amt.
Die Beteiligungsrechte sind in der Kinderrechtskonvention vergleichsweise blass geblieben. So als hätten die AutorInnen selbst nicht dem Potenzial getraut, das Minderjährige – in den Ländern des Südens häufig notgedrungen – täglich entfalten. Und anscheinend hat die Mittelschichtskindheit in den Industriestaaten als Idealmodell bei der Konvention Pate gestanden. Deshalb ist auch viel von Schule und Familie und wenig von der Gemeinde, von den Alten und Weisen die Rede, wenn es etwa um Erziehung geht.
Und für viele indigene Kulturen ist heute noch zutreffend, was die Ethnologin Florence Weiss Ende der 1970er Jahre in Papua-Neuguinea beobachtete: Die Kinder waren die meiste Zeit unbeaufsichtigt, sorgten für Säuglinge, sammelten Früchte oder rösteten Fisch. Bereits Fünfjährige übernahmen wichtige Aufgaben für die Gemeinschaft und lernten durch praktisches Tun auch für ihr erwachsenes Leben. Zeit zum Spielen blieb dabei genug.
30 Jahre später und weiter im Westen bei den Orang Rimba, den "Dschungelmenschen" auf Sumatra, reicht solches Lernen nicht mehr aus. Holzfäller und Palmölplantagen bedrohen Mensch und Natur. Dass die Kinder in einer privaten Alternativschule die indonesische Staatssprache gelernt haben, hat ihnen zumindest geholfen, den Bau einer Straße mitten durch ihr Waldgebiet zu verhindern.

Überall verändert sich Kindheit. Dank Internet im Kinderzimmer, Fernsehen, Schülerfirmen, Jobangeboten und Einkaufstouren durch Shoppingcenter verschwimmen nun auch in Europa die Grenzen zwischen Erwachsenensphäre und vermeintlich behüteter Kinderwelt. Und ist es angesichts der Selbstwahrnehmung und der Alltagswirklichkeit von Jugendlichen, die sich zudem in jeder Kultur unterscheidet, weltfremd, wenn die Konvention Kindheit bis 18 Jahre definiert? Sicher, auf irgendeine Altersgrenze für den Geltungsbereich des Abkommens musste man sich einigen. Aber warum hat man ausgerechnet bei der Rekrutierung zu Armeen eine Ausnahme gemacht und die Altersgrenze auf 15 herabgesetzt? Ein Zusatzprotokoll hat diesen Missstand inzwischen korrigiert. Dennoch wird deutlich, dass die UN-Konvention Machtverhältnisse widerspiegelt. Sie ist voller Kompromisse, und die Verteidigung der Kinderrechte kann mit der Konvention nicht abgeschlossen sein. Immer neu muss die Rechtsidee an die Entwicklung angepasst und in die jeweiligen Kulturen eingebettet werden.
Aber verliert die Konvention damit nicht an Geltungskraft, verliert sie dadurch die Universalität ihres Anspruchs? Die traditionelle Frauenrolle hält in Indien häufig dafür her, einem Mädchen den Schulbesuch zu verweigern oder es zwangsweise und viel zu früh zu verheiraten. Und viele der Mädchen nehmen es in Kauf: weil es so üblich ist, wegen drohender Ausgrenzung oder gar Gewalt. Ihre individuellen Wünsche und Ängste zählen weniger als der Zusammenhalt von Familie oder Gemeinde, zumal, wenn diese von außen bedroht sind. Auf manche solcher Rechtsverletzungen wie die etwa in islamischen Gemeinden West- oder Ostafrikas verbreitete "Klitoris-Beschneidung" geht die Konvention direkt ein. Diplomatisch formuliert werden in Artikel 24, Absatz 3, Maßnahmen vereinbart, um "überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen". Zur Durchsetzung dieses Rechts wäre es aber hilfreich gewesen, wenn die Konvention nicht nur die Abschaffung überlieferter Bräuche, sondern auch aller Praktiken, die die Gesundheit gefährden, gefordert hätte. Dann wäre deutlicher geworden, dass es nicht um die Durchsetzung westlicher Vorstellungen gegenüber vermeintlich rückständigen Kulturen, sondern um die Rechte der Mädchen geht.

Eine solche rechtsbasierte Sicht würde etwa auch das Genehmigungsverfahren für das Tragen des fast den ganzen Körper bedeckenden "Burkini" in öffentlichen Schwimmbädern in Berlin überflüssig machen. Oder die Debatten darüber, ob es Mädchen erlaubt sein soll, in säkularen Schulen das Kopftuch zu tragen. Man darf sie auch dazu nicht zwingen. Sie sollen überhaupt nicht zum Kanonenfutter weltanschaulicher Auseinandersetzungen gemacht werden. Und Kinder haben ein Recht auf alle ihre Rechte. Sie haben nicht nur das Recht auf Bildung, sondern auch auf eine eigene Identität und darauf, dass diese nicht zuletzt in den Schulen geachtet und gefördert wird. Kinderrechte müssen in ihrer Gesamtheit umgesetzt werden.

So gesehen ist die UN-Konvention auch ein Orientierungsrahmen bei der Bewertung der Projektarbeit für Kinder. Es ist gut, wenn Straßenkinder wie in so vielen und in der Spendenwerbung so beliebten offenen Anlaufstellen, Suppenküchen oder Übernachtungsplätzen Zuflucht, Zuwendung und etwas zu essen bekommen. Es ist auch in Ordnung, wenn sie sich dafür dankbar zeigen. Aber es ist schlecht, wenn sie zu lange auf diese Zuwendung angewiesen und zur Dankbarkeit gezwungen bleiben. Denn häufig wird versäumt, gleichzeitig ihre Selbstverantwortung und aktive Beteiligung zu fördern und das Eintreten für ihre Rechte gegenüber dem Staat.
Es ist gut, wenn Polizei oder AktivistInnen der indischen Kampagne gegen Kinderarbeit Buben und Mädchen aus indischen Textilfabriken befreien, damit sie in die Schule gehen können. Aber das hilft nicht viel, wenn sie in den Schulen geschlagen werden oder der Unterricht so schlecht ist, dass die Kinder damit im Leben nichts anfangen können; oder wenn sie mit dem Gelernten die Schuldknechtschaft nicht bekämpfen können, wegen derer ihre Eltern sie an die Fabriken verkauft haben. Die deshalb von diesen Organisationen finanzierten Schulangebote können aber auch nur eine Übergangslösung sein, bis die öffentlichen Schulen den Erfordernissen dieser Kinder entsprechen.
Es ist nötig, dass Geberorganisationen transparent machen, wie sie die Qualität ihrer Projekte messen. Dann können Außenstehende erkennen, ob die jeweiligen Qualitätskriterien, deren Entstehen in den letzten Jahren Konjunktur hatte, einem ganzheitlichen Verständnis aller Kinderrechte entsprechen oder nicht mehr sind als ein Kontrollinstrument bzw. eine Ansammlung guter Vorsätze.
Auch Verhaltenskodizes etwa gegen Missbrauch, auf die heute zumindest die großen Kinderhilfswerke ihre MitarbeiterInnen und Partnerorganisationen verpflichten, sind hilfreich, wenn es nicht nur bei einer unüberprüften Vereinbarung bleibt. Das Wichtigste scheint jedoch, dass solche Dokumente zu Reflexions- und Lernprozessen in den Projekten führen und dass Kinder sich selbst daran beteiligen können.

Ein großes Defizit der Konvention ist ihre geringe Verbindlichkeit. Zwar haben etwa terre des hommes-Projektpartner mancherorts die Erfahrung gemacht, dass die Monitoring-Automatik – etwa durch den Kinderrechtsausschuss der UN – hilfreich ist, um ihren Forderungen gegenüber der eigenen Regierung Nachdruck zu verleihen. Dennoch wird die Konvention ohne die Möglichkeit eines internationalen, individuellen Klagerechts und verbindlicher Sanktionen ein zahnloser Tiger bleiben. Dass ein solcher Mechanismus noch immer nicht etabliert ist, hat auch mit der zu erwartenden Flut an Klagen zu tun, allein schon wegen Artikel 3, der die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls vorschreibt.
Man stelle sich vor, wie Politik aussähe, wenn in Kabinettssitzungen die Zahl verhungernder Kinder ebenso viel Aufmerksamkeit wie die Aktienkurse bekäme. Welche Wirkung und Auswirkungen hätte es, wenn in den Abendnachrichten Flüchtlingskinder ebenso häufig zu Wort kämen wie RegierungsvertreterInnen?
Obwohl die Beteiligungsrechte in der UN-Kinderrechtskonvention gegenüber den Versorgungs- und Schutzrechten deutlich im Hintergrund stehen, scheinen sie der Schlüssel für ihre Umsetzung und Weiterentwicklung. Es wird wohl niemals einen Artikel geben, der das Recht von Kindern festschreibt, in der Sonne träumen zu dürfen. Dennoch wird deutlich, dass es bei der Konvention um mehr geht als eine Sammlung von Paragraphen. Es geht um das alltägliche Leben der Kinder und um ihre Zukunft, die heute beginnt.

Literaturtipp:
Manfred Liebel, Kinderrechte – Aus Kindersicht, Wie Kinder weltweit zu ihrem Recht kommen, Berlin 2009.
Siehe auch die Rezension auf Seite 39:
Martine und Caroline Laffon, Kinder in den Kulturen der Welt.

Peter Strack ist Pressereferent bei terre des hommes-Deutschland und war von 1996 bis 2006 Leiter des Regionalbüros Andenstaaten.

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