Gertrude ist verzweifelt, sie sucht nun schon seit zwei Monaten eine Schule für Rheza. Der jugendliche Afghane ist vor drei Jahren über den Landweg nach Österreich gekommen, alleine, als „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling (UMF)“, wie es im Amtsdeutsch heißt. Vier Monate hat seine Reise gedauert, zuerst, noch von verschiedenen Fluchthelfern „betreut“, durch den Iran und die Türkei, dann ab Griechenland auf eigene Faust über Italien nach Österreich. In Traiskirchen hat er einen Asylantrag gestellt. Knapp fünfzehn war er damals. Nach einem kurzen Aufenthalt in diesem Erstaufnahmezentrum in Niederösterreich wurde er einer Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge der Caritas Wien zugewiesen.
Rheza sprach damals neben Dari, der afghanischen Form des Persischen, in der er auch alphabetisiert worden war, nur ein paar Worte Englisch. Heute nach zwei Deutschkursen und zwei Jahren in einer Wiener Hauptschule spricht er Deutsch, wenn auch manchmal noch stockend. Seine BetreuerInnen in der Caritas-Wohngemeinschaft und vor allem Gertrude haben ihn tatkräftig unterstützt.
Gertrude ist „Patin“ in dem von der asylkoordination österreich betreuten Projekt „connecting people“. Sie kümmert sich, wie über 100 andere PatInnen, individuell um einen jungen Flüchtling und sorgt so dafür, dass Rheza zumindest einen Teil der ihm vorenthaltenen Kinderrechte zugestanden wird. Stundenlang hat sie mit Rheza Deutsch und Mathe geübt, ihm die Stadt gezeigt und über österreichische Geschichte erzählt. Oft war es schwierig, mit den Konzentrationsstörungen und Angstzuständen umzugehen, unter denen der junge Afghane immer noch leidet. Der Verlust der Familie und die Unsicherheit, wie das Asylverfahren – das nun schon über drei Jahre dauert – ausgehen wird, lassen ihn die traumatischen Erfahrungen vor und während der Flucht nicht vergessen.
Doch Rheza ist ehrgeizig, er hat den Hauptschulabschluss geschafft. Jetzt ist Gertrude allerdings an Grenzen gestoßen, die die österreichischen Fremdengesetze auch gegen Jugendliche errichtet haben, und die schwieriger zu überwinden sind als die immer noch vom Bundesheer bewachten Außengrenzen. So lange das Asylverfahren nicht abgeschlossen ist, dürfen Flüchtlinge weder arbeiten noch eine Lehre absolvieren. Der einzige Ausweg: eine weiterführende Schule, aber die sind für die meisten der jungen Flüchtlinge verschlossen.
„Viele sind auch bei noch so großem Ehrgeiz überfordert, und ein Misserfolg schmerzt“, erzählt Klaus Hofstätter, Projektleiter der asylkoordination. „Die Alternative ist Nichtstun und sinnloses Warten auf den Ausgang des Asylverfahrens.“ Die PatInnen sind in dieser schwierigen Situation als emotionale Bezugspersonen enorm wichtig. Ohne sie droht ein Absturz ins Nichts, vor allem, wenn nach Erreichen der Volljährigkeit die betreuten Wohngemeinschaften mit normalen Flüchtlingsunterkünften vertauscht werden müssen.
Gemäß der Kinderrechtskonvention sollten minderjährige Flüchtlinge gleiche Rechte wie inländische Kinder genießen. Kinderrechte sind von den Vertragsstaaten allen Minderjährigen ohne Ansehen ihrer Herkunft, Religion etc. zu gewährleisten.
Wie die Praxis zeigt, werden diese Rechte in Österreich allerdings systematisch verletzt. Nicht nur das Recht auf Bildung. So beginnt und endet für manche Minderjährige der Aufenthalt in Österreich in der Schubhaft, eine Form der „Unterbringung“, die in keiner Weise für Jugendliche geeignet ist. Laut einer parlamentarischen Anfragebeantwortung waren im Jahr 2007 immer noch 163 Minderjährige davon betroffen.
Der oft monatelange Aufenthalt von UMF im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen entspricht ebenfalls nicht der Idee vom „Wohl des Kindes“. Auch die Betreuungsstandards in der Grundversorgung während des Asylverfahrens gleichen kaum jenen, die für österreichische Jugendliche vorgesehen sind. Dass die zuständigen Jugendämter die Obsorge für junge Flüchtlinge übernehmen, ist nach wie vor nicht überall selbstverständlich.
Angesichts dieser Umstände geraten die Fortschritte, die bei der Durchsetzung der Rechte von UMF in den vergangenen Jahren gemacht wurden, leicht aus dem Blickfeld. Vor nunmehr zehn Jahren stellte eine von der UN-Kinderhilfsorganisation UNICEF finanzierte Studie der asylkoordination österreich*) erhebliche Defizite bei der Betreuung von UMF fest: Es existierten keine altersgerechten Betreuungseinrichtungen; minderjährige Flüchtlinge fanden sich häufig in Schubhaft (für 1998 waren es 773 laut Bundesministerium für Inneres); die Verantwortung für die UMF wurde zwischen Innenministerium und den Jugendämtern hin und her geschoben.
Eine breite Allianz aus Nichtregierungsorganisationen (NGOs) startete in der Folge die Kampagne „Menschenrechte für Kinderflüchtlinge“, die das Thema an die Öffentlichkeit brachte und die Verantwortlichen unter Druck setzte. 2001 wurden mit Mitteln des Europäischen Flüchtlingsfonds so genannte „Clearingstellen“ eingerichtet, in denen neu ankommende UMF nicht nur untergebracht, sondern auch ihren Bedürfnissen entsprechend medizinisch und psychologisch betreut werden. Wichtig war dabei ein konzertiertes Vorgehen der NGOs. Derzeit gibt es noch zwei Arbeitsgruppen, in denen die Probleme von UMF, die Tätigkeit in den Betreuungsstellen diskutiert und gemeinsame Strategien entwickelt werden. Noch gibt es viel zu tun. Engagierte ehrenamtliche Arbeit wie jene der PatInnen von „connecting people“ kann und soll die staatlichen Versäumnisse nicht ausgleichen, Öffentlichkeits- und Lobbyingarbeit für die komplette Umsetzung der Kinderrechtskonvention bleibt daher weiterhin ganz oben auf der Agenda der Flüchtlings-NGOs.
Herbert Langthaler ist Sozialanthropologe, Publizist und langjähriger Mitarbeiter der asylkoordination österreich.www.asyl.at/connectingpeoplewww.kinderhabenrechte.at*) Fronek, Heinz: Die Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Österreich, Wien 1998.