Als die englische Forschungsreisende Mary Kingsley gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die Dschungel Westafrikas zog, gab sie sich am liebsten als Händlerin aus. „Alle Menschen finden Handel sinnvoll“, begründete sie das. „Wenn man zum ersten Mal unter Leuten auftaucht, die noch nie jemanden wie dich gesehen haben, halten sie dich natürlich für den Teufel; aber wenn man von ihnen kaufen oder ihnen etwas verkaufen will, erkennen sie an dir menschliche und vernünftige Züge … Handel erlaubt es, als Ehrengast an entlegenen Dorffeuern zu sitzen und macht dich zur Vertrauensperson dieses universellen Machtfaktors der Gesellschaft, der alten Frauen.“
Jetzt, am Anfang des 21. Jahrhunderts, rufen Hilfswerke und Investoren in unsicheren Teilen Westafrikas am liebsten nach internationalem Militärschutz. Kein humanitärer Helfer setzt sich im Busch von Liberia an ein Dorffeuer; kein Kindersoldatenexperte plaudert nächtelang mit den Großmüttern über die Verrohung ihrer Enkel. Was den Beruf des Händlers angeht, so ist dieser diskreditiert. Händler betreiben Diamantenschmuggel, Waffenschieberei und illegale Ausplünderung.
Für die professionelle Krisenbeobachtung liegt der Kern der westafrikanischen Krise seit den 90er Jahren in der Unterstützung des liberianischen Präsidenten Charles Taylor für die damalige Rebellenbewegung Sierra Leones, die RUF (Revolutionary United Front). Die RUF schmuggelte Diamanten über Liberia und bekam im Gegenzug vom Taylor-Regime Waffen für ihre Feldzüge in Sierra Leone. Fast alle aktiven Schritte zum Eingreifen in der Region konzentrierten sich auf die Eindämmung dieser Vorgänge: Sierra Leone wurde mit einem Diamantenembargo belegt, später auch Liberia; eine gigantische UN-Blauhelmmission und eine robuste britische Eingreiftruppe besiegten die RUF; Taylor persönlich und sein Umfeld kamen unter ein Waffen- und Reiseembargo.
Der Erfolg dieser Maßnahmen ist nicht anzuzweifeln: Die RUF existiert als Rebellenbewegung nicht mehr; der sierra-leonische Diamantenhandel über Liberia ist zum Erliegen gekommen; Taylor verlor die Macht über sein Land.
Aber Frieden ist in Westafrika nicht eingekehrt. Im Gegenteil: Jedes Jahr scheint ein neues Land in den Krieg abzugleiten. In der ersten Hälfte der 90er Jahre war Liberia Bürgerkriegsland, in der zweiten Hälfte kam Sierra Leone dazu, 2000 kurzzeitig Guinea-Bissau und Guinea, ab 2001 wieder Liberia, ab 2002 Côte d’Ivoire. Im Sommer 2003 hat sich die Lage in Liberia wieder dramatisch zugespitzt.
Wie sich zeigt, ist die Achse Taylor-RUF nicht alleinverantwortlich für Westafrikas Probleme. Eine hochrangige UN-Sicherheitsdelegation befand im Juli nach einer Westafrika-Reise, die Ursachen der Konflikte der Region seien überall identisch: „Weit verbreitete Armut und schlechte Regierungsführung, die Verbreitung von Kleinwaffen und grenzüberschreitende Ströme von Söldnern.“ Eine zeitgleiche Mission der größten in der Region aktiven Hilfswerke beklagte als gemeinsame Formen der Kriegführung „extreme Gewalt gegen die Bevölkerung mit dem Ergebnis großflächiger Vertreibung; Gewalt gegen Frauen, Entführung von Kindern, Zwangsrekrutierung in bewaffnete Gruppen und Verstümmelung von Zivilisten“.
Für all das braucht man keine Diamanten. Schließlich erhalten die Rebellen, die in Liberia gegen Taylor kämpfen, genauso aktive Unterstützung seitens der Regierungen von Guinea und Côte d’Ivoire wie einst die RUF aus Liberia. Aber auch die Ausdehnung von Handelssanktionen auf sämtliche Kriegsparteien und Regierungen der Region würde die Lage nicht verbessern, sondern eher noch mehr Staaten in die Spirale der Gewalt treiben. Denn Handel ist die wirtschaftliche Basis Westafrikas und folgt eigenen Gesetzen – anderen, als es die willkürlich gezogenen kolonialen Grenzen in der Region eigentlich zulassen.
Der Schmuggel westafrikanischer Rohstoffe über Liberia ist kein neues Phänomen, sondern ein Ergebnis der Kolonialzeit. Liberia, 1822 als Siedlerstaat für freigelassene US-Sklaven gegründet und seit 1847 unabhängig, war nach Gründung der Kolonialreiche am Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der 50er Jahre der einzige freie Staat in einem Meer von Fremdherrschaft. Lange Zeit bot Liberias Hauptstadt Monrovia einheimischen afrikanischen Händlern die einzige Möglichkeit zu freier Tätigkeit. Bis 1956 war Afrikanern in Sierra Leone die Diamantenförderung verboten; wer es trotzdem tat – darunter zahlreiche Einwanderer aus anderen Teilen Westafrikas – musste nach Liberia gehen, um damit Geld zu verdienen: eine praktische Maßnahme antikolonialer Selbstbestimmung. Ab 1956 war zumindest die Förderung in Sierra Leone legal, aber staatlich reglementiert, und in den weiter von Schmuggel beherrschten Minengebieten an der Grenze zu Liberia entstand Ende der 80er Jahre die RUF. Der Staatssozialismus im Guinea von Sékou Touré war ein weiterer Anreiz für Westafrikaner, sich auf Liberia zu konzentrieren.
Zugleich war Liberia unter dem damaligen Präsidenten Samuel Doe ein Geheimdienstposten für die USA und eine Geldwaschanlage für Nigerias herrschende Militärs. Die Rebellion von Charles Taylor, der Ende 1989 in Liberia den Kampf aufnahm und 1997 gegen den jahrelangen Widerstand einer nigerianischen Eingreiftruppe die Macht ergriff, war demgegenüber vom frankophonen Westafrika gefördert: von der Côte d’Ivoire, Hauptbasis französischer Interessen in der Region, und Burkina Faso, Transitstation für von Libyen unterstützte westafrikanische Rebellen. Nach Taylors Sieg in Liberia war Sierra Leone die letzte Bastion nigerianisch-britischen Einflusses in der Region. Das erklärt das außergewöhnliche internationale Engagement, einen Sieg der RUF in Sierra Leone zu verhindern.
Heute kehrt Nigeria zu seiner historisch dominanten Rolle in Liberia zurück, während die einst mächtige Côte d’Ivoire zerfallen ist. Das verändert die ökonomischen Kräfteverhältnisse in der Region. In der Kolonialzeit bildeten die Kakaoplantagen der Côte d’Ivoire den Kern eines regionalen Systems der Arbeitsmigration und Exportorientierung. In ihrer Gesamtheit wohl der größte Arbeitgeber für afrikanische Lohnabhängige in der ganzen Region, hält die ivorische Plantagenwirtschaft und die Konzentration regionaler Handelsrouten auf Abidjan die halbe Sahelzone in ökonomischer Abhängigkeit und schafft Konkurrenz zu den anglophonen Ländern wie Liberia, Ghana und vor allem Nigeria mit seiner Betonung des informellen Handels.
Langfristig müsste der Gegensatz zwischen der kolonial ererbten Staatsfixierung auf autoritär organisierte Rohstoffexporte und der menschlichen Neigung zum unregulierten, bedürfnisorientierten Warentausch aufgelöst werden. Weder Westafrikas Staaten noch seine Volkswirtschaften wurden von den BürgerInnen der Region entsprechend ihren eigenen Prioritäten eingerichtet. Wenn sie jetzt einer nach dem anderen zusammenbrechen, ist das auch eine Folge des Scheiterns der bisherigen Machtsysteme, die von den Mächtigen als Werkzeug zur Wahrung privater Macht missbraucht worden sind.
Diese grundlegenden politischen Probleme beschäftigen auch zunehmend den UN-Sicherheitsrat, der inzwischen in drei Ländern – Sierra Leone, Liberia und Côte d’Ivoire – militärische Maßnahmen zur Friedenssicherung autorisiert hat und Friedensprozesse unterstützt. Die Sicherheitsratsmission, die Westafrika Ende Juni und Anfang Juli bereiste, betonte hinterher in ihrem Bericht die Notwendigkeit guter Regierungsführung, der Schaffung von Arbeitsplätzen und des entschlossenen Handelns zum Schutz der Zivilbevölkerung.
Das ist ein großer Fortschritt seit dem Verbot des informellen Diamantenexports, dieser Hinterlassenschaft kolonialer Willkür. Bleibt nur, daraus praktische Maßnahmen zu entwickeln, die die Entrechtung und Not der Menschen in Westafrikas Krisengebieten beenden. Davon ist die Welt, trotz allen Entsetzens über die Zustände in Liberia, noch weit entfernt.