Kein Centavo mehr

Von Leo Gabriel · · 1999/06

Brasiliens Auslandsschuld explodiert – zahlreiche Volksorganisationen mit vielen Millionen Mitgliedern forderten bei einem „Tribunal“ einen sofortigen Zahlungsstopp. Und eine Besetzung aller Banken des Landes.

Ende April gab es in Rio de Janeiro eine Veranstaltung ganz besonderer Art: das sogenannte „Schuldentribunal“ (Tribunal da Divida). Für zwei Tage vereinte es über tausend Delegierte zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Brasilien und dem Ausland.

Im Zentrum der Kritik stand erwartungsgemäß die weltumspannende neoliberale Wirtschaftsordnung. Die Abschlußforderung lautete, keinen Centavo mehr von dieser „ungerechten, antiethischen und menschenunwürdigen Auslandsschuld“ zu bezahlen. Damit zielte das Tribunal auch bewußt auf das wirtschaftspolitische Herz der krisengeschüttelten Regierung des Präsidenten Fernando Enrique Cardoso.

„Stören Sie mich doch nicht! Sehen Sie nicht, daß ich gerade damit beschäftigt bin, unser Land zu verkaufen“, schrie der Schauspieler dem über tausendköpfigen Publikum bei der Eröffnungsveranstaltung zu. Er hatte die Rolle des Präsidenten und Wirtschaftsprofessors übernommen, der „die Bücher, die er schrieb, wohl nie selbst verstanden hat“. So sagte es zumindest das Direktoriumsmitglied der brasilianischen Landlosenbewegung, Joăo Pedro Stedile, in Anspielung auf die dependenztheoretischen Abhandlungen, die das Staatsoberhaupt noch vor zwanzig Jahren verfaßt hatte.

Das gleiche Motiv fanden wir in der Mittagspause auf einer Karikatur wieder, welche die Elektroarbeiter im Stadtteil Botafogo am Eingang ihres Werksgeländes angebracht hatten. Sie waren in den Streik getreten, um gegen die geplante Privatisierung der brasilianischen Elektrizitätswirtschaft Widerstand zu leisten. „Sollte das wirklich passieren, dann wird sofort die Hälfte der Belegschaft gefeuert“, erklärte der Generalsekretär der Gewerkschaft zornig und fügte hinzu: „Den Erlös braucht die Regierung, um die Zinsen für die Auslandsschuld bezahlen zu können.“

Daß diese sich seit dem Amstantritt Cardosos auf 230 Mrd. US-Dollar erhöht hat, erfahren wir am Nachmittag von Marcos Arruda, einem der brilliantesten Nationalökonomen Brasiliens, der sich bereits vor Jahren mit seinem Institut PACS an die Spitze der Kampagne „Jubiläum 2000“ gestellt hat. Diese in Kreisen der katholischen Kirche weltweit lancierte Kampagne hat sich einen völligen Schuldenerlaß für die sogenannten LDCs (Least developped countries zum Ziel gesetzt.

Gerade um nun die Forderungen von Jubiläum 2000 auf die sogenannten Schwellenländer auszudehnen, von denen einige (wie z.B. Indonesien, Mexiko, Brasilien) gerade in den letzten Jahren von tiefgreifenden Wirtschaftskrisen erfaßt wurden, wollten eine Reihe von kirchlichen und nichtkirchlichen Organisationen Brasiliens mit diesem Tribunal da Divida ein Exempel statuieren. „Denn die Volkswirtschaften dieser Länder mögen nach wie vor relativ reich sein; die überwiegende Mehrheit ihrer Bevölkerung aber ist bettelarm“, sagte François Houtart, Leiter eines sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts in Belgien, in seinem vielbeachteten Referat zu Beginn des Tribunals.

Deshalb waren in der Jury auch jene RepräsentantInnen verschiedener gesellschaftlicher Sektoren vertreten, die insgesamt die überwiegende Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung ausmachen: die Indígenas und Landlosen; die ArbeiterInnen (Gewerkschaften) und Arbeitslosen sowie die Kleinbauern und Kleingewerbetreibenden. Sie alle saßen zur Linken des Gerichts, das durchwegs aus Staatsanwälten und RichterInnen bestand, die sich während der Zeit der Militärdiktatur (1964-1987) auf die Seite der Verfolgten gestellt hatten.

Zur rechten Hand des Gerichts, das vor einer überdimensionalen Banknote Platz genommen hatte, aus der das Gesicht des Elends hervorlugte, nahmen sich die ZeugInnen Platz. Sie stellten die verheerenden Folgen der Auslandsverschuldung in einigen ausgewählten Ländern wie Südkorea, Madagaskar, Argentinien, Rußland und vor allem Brasilien zur Diskussion. Fallweise wurden auch Statements von Personen, die nicht anwesend sein konnten, auf einen Bildschirm projiziert – u.a. vom berühmten nordamerikanischen Linguisten Noam Chomsky sowie einiger brasilianischer Regierungsvertreter.

Der Fall Brasilien wurde von einigen prominenten Wirtschaftswissenschaftlern behandelt wie z.B. Teotonio dos Santos, ebenso wie Cardoso in den siebziger Jahren ein vehementer Kritiker am Entwicklungsmodell der USA.

Dabei kamen die enormen Kürzungen zur Sprache, die der Präsident im Anschluß an die Wirtschaftskrise im Jänner dieses Jahres verordnet hatte,um einen vom Internationalen Währungsfonds an verschiedene Auflagen gebundenen 42,5 Mrd.-Dollar-Kredit zu bekommen.

In der Folge der 70prozentigen Abwertung des Reals vor zwei Monaten sind die laufenden Budgets für Kinderbeihilfen um 73, für Wohnbau um 70, für Agrarreform um über 42 und für indigene Völker um 78 Prozent reduziert worden.

Die Rückwirkungen dieses gigantischen Sparpakets kommen vor allem in einem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosenrate, die laut offiziellen Angaben sogar in der Wirtschaftsmetropole Săo Paulo die 20%-Marke überschritten hat, ebenso zum Ausdruck wie in der absoluten Zahl von 60 Millionen Menschen, die derzeit unterhalb der Armutsgrenze leben.

Mehr noch als diese Zahlen vermittelte ein Besuch in einer der vielen neuen Siedlungen am Stadtrand von Rio de Janeiro die extreme Notlage, in der sich die Mehrzahl der BrasilianerInnen heute befindet. Als wir dort ankamen, waren die meisten gerade dabei, ein paar mit Eseln herbeigekarrte Bretter zusammenzunageln, in der Hoffnung, sie könnten ihre wasserdurchlässigen Plastikplanen dadurch endgültig ersetzen.

Wie trügerisch diese Hoffnung war, erfuhren wir bald von einem Aktivisten der Dachlosenbewegung (Movimento Sem Tetos – in Anlehnung an die berühmte Landlosenbewegung, das Movimento Sem Terra). Er arbeitet hier seit Beginn der Landbesetzung vor sechs Wochen. Er erzählte, daß der Grundeigentümer soeben den gegen die Neusiedler geführten Prozeß gewonnen hatte und daher die Polizei jederzeit einmarschieren könnte. Wie zur Bestätigung seiner Aussage umkreiste gerade ein Hubschrauber das hügelige Gelände.

Trotzdem war den Gesichtern der Frauen und Männer kein Zeichen von Nervosität oder Anspannung anzusehen. „Wir müssen ja hierbleiben und uns zur Wehr setzen; sonst fangen wir da drüben wieder gleich an“, erklärte eine junge Frau. Sie hatte in einem Friseurladen gearbeitet, ist aber vor zwei Monaten entlassen worden, weil sie keine Kundschaft mehr gehabt hat – wegen der Krise natürlich.

Wieder zurück im Teatro Sao Gaietano, wo das Schuldentribunal stattfand: Joăo Pedro Stedile, der charismatische Koordinator der Landlosenbewegung MST, spricht gerade darüber, daß es der Regierung Cardoso zwar gelungen sei, die kurzfristigen Spekulationskapitalien durch eine neuerliche Erhöhung der Bankzinsen wieder ins Land zu bringen und dadurch den Wechselkurs bei 1,70 Reales pro Dollar zu stabilisieren. Der Rezession bei den heimischen Klein- und Mittelbetrieben konnte er aber ebensowenig Herr werden wie der damit verbundenen Arbeitslosigkeit.

Diese katastrophalen Perspektiven führten Stedile schließlich zu jener folgenschweren Aussage, die sich auch im abschließenden „Urteil“ der Richterin des Tribunals wiederfand: “ Um also das Leben unserer Kinder zu retten, müssen wir darum kämpfen, daß kein Centavo mehr an den Internationalen Währungsfonds oder sonst irgendeine Bank bezahlt wird. Denn erstens haben wir die Schulden bereits mehr als einmal bezahlt, wenn wir allein an die Zinsen denken, die wir abgeführt haben. Und zweitens ist die Auslandsschuld eine ungerechte, antiethische und menschenunwürdige Schuld.“

Kaum hatte Stedile diesen Satz beendet, brach im Saal ein tosender Beifall aus, der sich auch dann nicht beruhigte, als die beiden oppositionellen Spitzenpolitiker Leonel Brizola von der Sozialdemokratischen Partei und Luis Ińacio da Silva „Lula“ von der Arbeiterpartei (PT) auf dem Podium Platz nahmen, um ihre Unterstützung der Kampagne gegen die Auslandsschuld zum Ausdruck zu bringen, eine Unterstützung, die auch von einigen brasilianischen Bischöfen ausgesprochen wurde.

Einige Tage später, am 1. Mai, wurde die Verurteilung der Auslandsschuld vor 50.000 ArbeiterInnen, Angestellten und Landlosen erneut mit tosendem Applaus ratifiziert. Diesmal war es Gilberto Mauro, ein anderes Direktoriumsmitglied der MST, der der dicht gedrängten Menschenmenge die Gretchenfrage stellte: „Wer von euch ist dafür, noch in dieser Woche die Banken in ganz Brasilien zu besetzen, um zu verhindern, daß auch nur ein Real dem IWF bezahlt wird?“.

Sprach’s und verschwand gleich darauf im Hintergrund. Denn in der Zwischenzeit war für ihn bereits ein polizeilicher Haftbefehl ausgestellt worden. Und die 50.000 DemonstrantInnen beantworteten die Frage Mauros mit in die Höhe gestreckter Hand.

Leo Gabriel ist Leiter des Boltzmann-Instituts für zeitgenössische Lateinamerikaforschung in Wien und arbeitet auch als Journalist und Filmemacher.

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