Bei der harmonischen Entwicklung eines Kapitalismus mit menschlichem Antlitz nach dem Zweiten Weltkrieg spielten Produktivitätssteigerungen und Kapitalverkehrskontrollen eine wichtige Rolle.
Über die Selbstentmachtung der Politik sind nunmehr die multinationalen Konzerne zu den wirklich mächtigen Akteuren der Weltentwicklung geworden, meint Andreas Novy.
Die materiellen und zivilisatorischen Trümmer des Faschismus ließen nach 1945 keinen Zweifel daran, dass die destruktiven Kräfte des Kapitalismus gezähmt werden müssen: Um den Kapitalismus zu retten, müssen seine Exzesse vermieden werden. Lord Keynes, glühender Verfechter einer bürgerlichen Gesellschaft, lieferte das Theoriegebäude für einen gezähmten Kapitalismus, der die kurzfristige Gewinnmaximierung der langfristigen Planung von Wirtschaft und Gesellschaft unterordnet. Diese Strategie erwies sich in den folgenden Jahrzehnten als Erfolgsmodell: Niemals in der Geschichte des Kapitalismus war das Wirtschaftswachstum über einen so langen Zeitraum so hoch und von keiner größeren Krise begleitet.
Der Wohlfahrtsstaat in Europa und der Entwicklungsstaat in großen Teilen der Peripherie waren das Ergebnis historisch einmaliger Kräfteverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele Großunternehmen hatten mit dem Nationalsozialismus sympathisiert und waren deshalb diskreditiert. Gleichzeitig übte die Sowjetunion große Anziehungskraft auf die Arbeiterschaft aus. Daher war ein Kapitalismus mit menschlichem Antlitz das notwendige Gegenmodell zum real existierenden Sozialismus. Es war im Wesentlichen aufgrund des Kalten Krieges, dass in Europa, aber auch in Nord- und Südamerika radikale Verstaatlichungen und Sozialprogramme umgesetzt wurden.
Einige Jahrzehnte lang gingen Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung, Produktivitätssteigerungen und Ausweitung des Wohlfahrtsstaats Hand in Hand. Entscheidende Voraussetzung für diese nachhaltige, untypisch harmonische Entwicklung des Kapitalismus waren Kapitalverkehrskontrollen, die die Mobilität des Kapitals einschränkten. Damit war dem Kapital vorübergehend seine mächtigste Option genommen, die im Kapitalismus das Kräfteverhältnis zum Nachteil der Lohnabhängigen verschiebt: Es konnte nicht fliehen. Das scheue Reh, als das sich das Kapital gerne sieht, war in seinem nationalen Gehege eingesperrt. Neue Investitionen hatten vorrangig im eigenen Land zu erfolgen. Deshalb waren die Unternehmer gezwungen, sich um Produktivität und Nachfrage im eigenen Land zu sorgen.
Diese harmonische Entwicklung endete in den 1970er Jahren, als sich das Reh langsam von den ihm auferlegten Fesseln befreien konnte. Die USA waren nicht länger fähig und willens, den US-Dollar als Leitwährung zu finanzieren. 1971 hoben sie die Bindung des Dollar an den Goldpreis auf. Frei schwankende Währungen und ein Abbau von Kontrollen für das Geldkapital ermöglichten fortan die Schaffung eines privaten Finanzmarktes. Dieser erlaubte dem Kapitalismus, erneut seine natürliche Form anzunehmen: Entfesselt und schrankenlos tendiert er zur Überakkumulation, weil er zwar Gewinne maximiert, für seine Produkte aber keine KäuferInnen findet.
Mit Pinochet in Chile 1973, Thatcher in Großbritannien 1979 und Reagan in den USA 1980 setzte sich politisch der Wirtschaftsliberalismus durch, zuallererst und vorrangig über die Ausschaltung der Gegner: In Chile geschah dies durch die Diktatur, in England durch die vergleichsweise friedliche Niederschlagung des Bergarbeiterstreiks. Weder die chilenische Opposition noch die britischen Gewerkschaften haben sich von diesem Schlag erholt. Den multinationalen Konzernen, den großen Nutznießern schrankenloser Märkte, stand damit kein Gegenspieler mehr im Weg. Sie konnten über die letzten Jahre ungeahnte Macht anhäufen, indem sie Größen- und Produktivitätsvorteile ausnützten, kleine Konkurrenten ausschalteten und damit Markt- und Preisführerschaft erlangten. Sie sind die wirklich mächtigen Akteure der Weltentwicklung geworden – gleichsam die Vorzeige-Rehe.
Die Politik, wie wir sie aus den parlamentarischen nationalstaatlichen Demokratien kennen, hat in der Zwischenzeit die eigene Entmachtung selbst organisiert. Es war eine Vielzahl nationalstaatlicher politischer Entscheidungen, durch die eine wirtschaftsliberale Realverfassung außer Streit gestellt wurde, die heute vom gesamten politischen Establishment mitgetragen wird. In der Entwicklungspolitik macht Good Governance als Grundlage der offiziellen Entwicklungspolitik Marktöffnung, Liberalisierung und Privatisierung zur Voraussetzung für Entwicklungszusammenarbeit.
Liberalismus und Kapitalismus stehen damit am Höhepunkt ihrer Macht. Gleichzeitig sind sie radikal herausgefordert, da der Kapitalismus seine eigene Existenzgrundlage untergräbt und als weltweite Wirtschaftsform zu schweren Krisen neigt. Noch wird die Situation vom politischen und wirtschaftlichen Establishment schön geredet. Es gebe kein schöneres Tier als das Reh, Liberalismus und Kapitalismus seien der unbestreitbare Höhepunkt menschlicher Entwicklung, Konzerne seien der Inbegriff von Grazie. Immer mehr Menschen allerdings zweifeln an dieser vorgesetzten Einheitsmeinung. Die Vorsichtigen fragen sich, wer heute das Reh zähmen soll, oder ob es realistisch sei zu hoffen, dass sich das Reh freiwillig zähmt? Die Unverschämten behaupten sogar, das Kapital sei gar kein Reh, sondern eine Horde von Heuschrecken, gierig und erbarmungslos. Wer Recht behält, wird auf jeden Fall nicht an der Universität entschieden, sondern in den weltweiten sozialen Auseinandersetzungen um Solidarität und Freiheit für alle. Diesmal steht keine Sowjetunion im Rücken. Die Zukunft wird allein von der Kreativität und Macht sozialer und politischer Bewegungen abhängen.
AutorenInfo: Andreas Novy ist außerordentlicher Professor an der Abteilung für Stadt- und Regionalentwicklung der Wirtschaftsuniversität Wien, Obmann des Mattersburger Kreises für Entwicklungspolitik an den österreichischen Universitäten und wissenschaftlicher Leiter des Paulo-Freire-Zentrums in Wien.