Maimun wurde von einer Gruppe von Männern vergewaltigt, dann mit einem Messer vom Hals bis zum Nabel aufgeschlitzt und bewusstlos und blutüberströmt am Wegrand liegen gelassen. Das Tatmotiv: Maimun hatte es gewagt, ohne die Zustimmung ihrer Familie Idris, den Mann ihrer Wahl, zu heiraten. Sie überlebte, weil ein Bekannter sie noch rechtzeitig fand.
Der Terror, zu dem Maimuns Angehörige aus Rache für die Liebesheirat griffen, war damit nicht zu Ende. Als sie gegenüber Idris‘ Eltern gewalttätig wurden, schlug ein Bekannter dem jungen Paar vor, nach Delhi zu fahren. Dort gebe es ein Büro, das Frauen helfen würde. Es war der 14. August 1997 – die Feiern zum 50-Jahresjubiläum der indischen Unabhängigkeit hatten begonnen –, als Maimun und Idris vor den Leiterinnen der Nationalen Frauenkommission in Delhi standen und baten: „Rettet unsere alten Eltern. Sie werden die Folter nicht überleben.“
Mehrere Mitglieder der Kommission, darunter Syeda S. Hameed, unternahmen, was in ihrer Macht stand. Doch im Dorf sahen sie sich einer geschlossenen Front aus Ablehnung und Aggression gegenüber. Die Dorfbewohner – Männer und Frauen – waren sich einig: „Das sind unsere Bräuche. Niemand kann sich hier einmischen. Weder Mensch noch Gott.“
Neun Jahre später hat Syeda S. Hameed nun das Buch „they hang: twelve women in my portrait gallery“ herausgebracht, deutsch „Sie hängen: zwölf Frauen in meiner Porträtsammlung“. Darin schildert sie Fälle wie jenen von Maimun, in denen die Frauenkommission letztlich nichts bewirken konnte und die betroffenen Frauen keine Chance auf Gerechtigkeit hatten.
Erschienen ist das Buch beim Verlag Women Unlimited von Ritu Menon. Sie hatte 1984 gemeinsam mit Urvashi Butalia in Neu Delhi Kali for Women gegründet, den ersten feministischen Verlag Indiens, der auch das erste Buch der heute weltbekannten Physikerin und Aktivistin Vandana Shiva veröffentlichte. Die beiden Verlegerinnen wollten sich auf Frauenstimmen konzentrieren und mit ihren Publikationen die Themen und Anliegen der Mitte der 1970er Jahre entstandenen neuen indischen Frauenbewegung widerspiegeln. Viele zweifelten damals an der Lebensfähigkeit eines von Frauen geführten Unternehmens, das noch dazu Werke „nur“ von Frauen herausbrachte. Zwei Jahrzehnte danach kann Urvashi Butalia, die mit „Zubaan“ heute ebenfalls ihren eigenen Verlag hat, sagen: „Sicher würden viele Verleger der Aussage zustimmen, dass Bücher von Frauen sich inzwischen oft am besten verkaufen.“ In den 1980er Jahren hatten sie und Ritu Menon Autorinnen häufig erst davon überzeugen müssen, dass ihre Werke es verdienten, veröffentlicht zu werden. Heute gehe es eher darum, so Butalia, „sich das Werk einer Autorin zu sichern, bevor ein anderer Verleger es sich schnappt“.
Die neue Literatur von Frauen zählt zusammen mit der Literatur von Unberührbaren, den Dalits, und von Indiens UreinwohnerInnen, den Adivasi, zu den wichtigsten Entwicklungen am indischen Buchmarkt der letzten 30 Jahre. Allerdings ist es weiterhin schwierig, sich einen guten Einblick zu verschaffen, von einem Überblick ganz zu schweigen. Nur ein geringer Teil der Werke ist bis jetzt ins Englische oder Französische übersetzt, viel weniger noch ins Deutsche.
Das ausführlichste Werk über das literarische Schaffen von Frauen bleibt weiterhin die 1991/1993 von K. Lalita und Susie Tharu herausgebrachte, zwei Bände und mehr als eintausend Seiten umfassende Anthologie „Women Writing in India: 600 B.C. to the Present“.
Zur Frankfurter Buchmesse mit Schwerpunkt Indien erscheint in deutscher Sprache „Frauen in Indien“, eine von Urvashi Butalia herausgegebene Sammlung von Erzählungen. Eine umfangreiche neue Anthologie „Zwischen den Welten. Geschichten aus dem modernen Indien“ enthält Texte der bedeutenden muslimischen Schriftstellerinnen Ismat Chugtai und Quratulain Hyder sowie der renommierten Telugu-sprachigen Autorin Volga. Von Anita Nair, die bereits mit ihrem Roman „Das Salz der drei Meere“ im Westen erfolgreich war, erscheint das neue Werk „Kathakali“. Dalits und Adivasi sind in Frankfurt hingegen kaum vertreten. So zahlreich und vielfältig die Neuerscheinungen anlässlich der Buchmesse auch sind, bleibt die Dominanz der ursprünglich in Englisch verfassten indischen Literatur doch unangefochten.
In Englisch, der Sprache der ehemaligen britischen Kolonialherren, haben seit dem frühen 20. Jahrhundert eine Reihe bedeutender AutorInnen wie R. K. Narayan, Mulk Raj Anand, Anita Desai oder Ruth Jhabvalla ihre Werke verfasst. Den großen internationalen Durchbruch schaffte 1981 Salman Rushdie mit dem Roman „Mitternachtskinder“. Mit seiner selbstbewussten und bisweilen verwegenen Ausdrucksweise etablierte Rushdie das indische Englisch als neue Sprache der Weltliteratur. Seither werden zahlreiche AutorInnen wie Amitav Ghosh, Vikram Seth, Rohinton Mistry, Vikram Chandra oder Arundhati Roy weltweit gelesen, ob im englischen Original oder in einer der vielen Übersetzungen. Derselbe Rushdie löste 1997 allerdings mit der Herausgabe einer Anthologie indischer Literatur eine erbitterte Debatte im Land aus. Nicht nur nahm er in „The Vintage Book of Indian Writing 1947-1997“ mit einer einzigen Ausnahme nur indoenglisch schreibende AutorInnen auf. In seinem einleitenden Essay wertete er die in indischen Regionalsprachen verfasste Belletristik generell ab.
Qualität und Reife der indoenglischen Literatur sind unumstritten. Allerdings wird gegen einzelne AutorInnen oder Werke bisweilen der Vorwurf erhoben, sie würden bewusst Klischees bedienen, um das westliche Verlangen nach Exotik zu stillen. Kernpunkt kritischer Debatten ist die Frage der Repräsentation: Für welches Indien stehen auf Englisch schreibende AutorInnen, die noch dazu teils im Westen leben? Und welches Indien vermitteln sie in ihren Werken? Der Unberührbare in Arundhati Roys Roman „Der Gott der kleinen Dinge“ etwa ist indischen KritikerInnen zufolge eine Fantasiegestalt. Sie sage zwar etwas über Roys Vorstellungen von Unberührbaren aus, doch könne sich kein Dalit mit dieser Figur identifizieren.
Wer Englisch schreibt, gehört einer panindischen, urbanen Elite an und hat unmittelbaren Zugang zu einem internationalen Publikum. Wer in den großen Regionalsprachen wie Bengali oder Tamil schreibt, hat zwar potenziell ein größere Leserschaft als zum Beispiel deutschsprachige AutorInnen. Doch bleibt die Sichtbarkeit häufig auf die Region beschränkt. Denn Übersetzungen sind kostspielig. Während die Zahl der Übersetzungen aus den Regionalsprachen ins Englische in den letzten Jahren gestiegen ist, ist jene von Regionalsprache zu Regionalsprache gesunken, sagt Ritu Menon.
Menons Verlag Women Unlimited hat sich mit anderen kleineren Verlagen in Neu Delhi zusammengeschlossen, um den Stimmen derer, die keine oder wenig Macht haben, mehr Gehör zu verschaffen. Diese subalternen Stimmen – wie der durch die „Subaltern Studies group“ des Historikers Ranajit Guha Ende der 1970er Jahre geprägte, inzwischen populäre Begriff lautet – sollen in Form von Belletristik oder von Sachbüchern wie Syeda S. Hameeds „they hang“ Zugang zur Öffentlichkeit finden. Bücher zu entdecken und zu verlegen ist für Ritu Menon stets auch ein politischer Akt. Die Geschichten der Frauen in „they hang“, schreibt Syeda S. Hameed in ihrem Vorwort, „müssen erzählt werden, […] damit sie nicht aus dem öffentlichen Gedächtnis gelöscht werden“.
Gemeinsam mit dem Frauenzentrum Asmita in Hyderabad hat Women Unlimited auch begonnen, die Bedingungen zu erforschen, unter denen Frauen schreiben und welcher Art von (Selbst)Zensur sie unterliegen. Ein ähnliches Projekt verfolgt das Frauenarchiv Sparrow in Bombay. Women Unlimited, Asmita und Sparrow bringen nicht nur Werke von Autorinnen heraus, sondern auch Interviews, in denen Frauen über ihr Leben und literarisches Schaffen erzählen.
65 Jahre ist es her, seit Ismat Chugtai mit ihrer Kurzgeschichte „Lihaaf“ – Die Steppdecke – Aufsehen erregte: Sie handelt von einer lesbischen Beziehung. Bis heute ist es für Frauen nicht einfach, über ihren Körper und ihre Sexualität zu schreiben. In den vergangenen fünf Jahren haben im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu einige junge Autorinnen heftige Reaktionen mit ihren Gedichten ausgelöst, in denen sie Wörter wie Vagina oder Brüste verwenden und die unbefriedigende sexuelle Routine des Ehelebens thematisieren. Bei Sparrow sollen in nächster Zukunft englische Übersetzungen der in mehr als zehn verschiedenen Sprachen verfassten Texte erscheinen.
Frauen haben sich in den letzten 30 Jahren einen Platz in der indischen Literatur geschaffen, der auch international wahrgenommen wird. Die Stimmen der Subalternen haben damit noch lange nicht ausreichend Gehör. Werke von Dalits, den Unberührbaren, sind international weiterhin schwer zugänglich. Auf Englisch sind lediglich einige Anthologien von ursprünglich in Marathi verfassten Texten sowie mehrere aus dem Hindi und Tamil übersetzte Romane erschienen. Über die in anderen offiziell anerkannten Regionalsprachen geschriebene Dalit-Literatur geben nur einzelne Kapitel in Büchern über die Dalit-Bewegungen der jeweiligen Region Aufschluss.
Gerade die Literaturen der Dalits und der Urbevölkerung Indiens, der Adivasi, eröffnen aber einen völlig anderen Blick auf die indische Gesellschaft. Ständig wiederkehrendes Thema in diesen Werken sind die strukturellen Gewalt- und Ausbeutungsmechanismen im tradierten Gesellschaftssystem. Aus der Sicht der Subalternen lesen sich auch die heiligen Schriften der Hindureligionen, die großen Epen und die Texte der klassischen indischen Literatur ganz anders. Dalit-Feministinnen gehen inzwischen noch einen Schritt weiter und fordern sowohl die Dalit-Männer als auch die Feministinnen der hohen Kasten mit ihrer Sicht von unten heraus. „Warum sollte ich die Erniedrigungen verschweigen, die wir Dalit-Frauen tagtäglich erfahren?“ fragt die Autorin Urmila Pawar, über die Sparrow ein kleines Heft veröffentlicht hat. Den Dalit-Feminismus bezeichnet Sharmila Rege, Leiterin des Soziologie-Instituts an der Universität von Pune, als eine der bedeutendsten soziopolitischen Strömungen der letzten Jahre. Entstanden ist er allerdings nicht erst jetzt, seit er von Feministinnen höherer Schichten gleichsam entdeckt wird. „Weil die indische Frauenbewegung die Dalit-Frauen mit ihren Anliegen und Aktivitäten nicht wahrnahm, waren sie zwar unsichtbar, aber deswegen nicht inexistent“, betont Sharmila Rege. „Amhihi itihas ghadawala“ – Auch wir machten Geschichte – nannten Urmila Pawar und Meenakshi Moon ihr in Marathi verfasstes Werk über die Partizipation der Frauen in der von Bhimrao Ramji Ambedkar geführten Dalit-Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. „Auch wir machen Geschichte“, bekräftigt Urmila Pawar heute.