Noch vor wenigen Jahren galt der Irak als eindrucksvolles Beispiel von Modernisierung. Heute zeigen sich aus schierer materieller Not maßgebliche Rückschritte. Und die Menschen sind häufig nicht imstande, das Positive der traditionellen islamischen Gemein
Das wissenschaftliche Interesse an der irakischen Gesellschaft erlosch indessen urplötzlich, als es eigentlich erst richtig „interessant“ wurde: nach dem Überfall Saddams auf Kuwait, dem Zweiten Golfkrieg, der den Irak „in die Steinzeit zurück bomben“ sollte, und den internationalen Wirtschaftssanktionen, die nach fast zehn Jahren Dauer die Mittelschicht – also das klassische Objekt jeder Modernisierung – ausgerottet haben.
Mein Blick auf die Entwicklung der irakischen Familie ist also nicht empirisch untermauert, sondern stützt sich auf Gespräche und Hörensagen. Einwurf: Als augenscheinlichste Konsequenz der wirtschaftlichen (und natürlich auch politischen) Situation für die irakische Familie würde fast jeder Iraker die Emigration nennen – tatsächlich sind irakische Familien nicht selten über die fünf Erdteile zerstreut, Millionen Iraker und Irakerinnen haben ihr Land verlassen -, damit wollen wir uns hier aber nicht beschäftigen.
Mein erster Reflex – der alte positive Vorurteile gegenüber der islamischen Familie projiziert – beim Nachdenken über die Situation im Irak, war, dass durch die Krise bestimmt alte Solidaritätsmuster wieder mehr Wert bekommen müssten: Die Familie hält zusammen. Das Gegenteil scheint leider der Fall zu sein.
Der Grund dafür ist so banal, dass man weinen möchte: Besuche bei der erweiterten Familie sind deshalb unüblich geworden, weil die einfachste Bewirtung für viele ein unüberwindbares Problem darstellt. Stichwort Zucker. Jeder, der den Orient ein bisschen kennt, weiß von den Mengen an Zucker, die allein für Tee und Kaffee gebraucht werden: Die durch Lebensmittelmarken zu einem billigen Preis erhältliche Menge wäre in ein, zwei gastlichen Sitzungen dahin. Auf dem freien Markt zuzukaufen, ist nur etwas für die Reichen. Kreative Ideen zur Lösung dieses Dilemmas wird es wahrscheinlich geben, aber offensichtlich sind die Konventionen – die Scham, die Armut einzugestehen – meist stärker. Die erweiterte Familie entfernt sich voneinander.
Wie in jeder Gesellschaft, die sich in Krise und Not befindet, sind die Auswirkungen auf Frauen und Kinder auch im Irak am stärksten und drohen alle früheren Errungenschaften zunichte zu machen. Als eine der wichtigsten männlichen Heiratsrequisiten wäre in den achtziger Jahren zweifellos „Bildung“ genannt worden, worunter ein Schulabschluss, in gewissen bürgerlichen Schichten ein Hochschulabschluss verstanden wurde.
Heute haben sich die Werte radikal verändert, erzählt mir eine 30-jährige Irakerin, die sich mit ihren Altersgenossinnen über die Heiratsgewohnheiten ihrer jüngeren Schwestern entsetzt: Da werden reichlich primitive Männer nur wegen ihrer Tüchtigkeit im Geldherbeischaffen geheiratet. Der Bursche, der studiert, gilt hingegen a priori als Verlierertyp, von dem nichts zu erwarten ist. Damit einher geht ein Absinken des Heiratsalters, das im Irak in der Mittelschicht im Vergleich zu anderen islamischen Ländern in den letzten Jahrzehnten eher hoch war. Jetzt ist die Versorgungsperspektive durch eine Heirat wichtiger denn je, warten wäre existenzgefährdend – und auch für die Elternfamilie des Mädchens ist eine Esserin weniger am Tisch eine attraktive Aussicht.
Dass dies alles der immer schon prekären Stellung der Frau nicht gut tut, liegt auf der Hand. Von offiziellen Stellen selbstverständlich abgestritten, blüht in den schiitischen Gebieten die Mu’ta, die „Genussehe“ wieder auf, meist nichts anderes als eine Form der verdeckten Prostitution, bei der die Ehe auf eine bestimmte Zeit, die auch nur zehn Minuten betragen kann, abgeschlossen wird. Die Prostitution braucht aber nicht immer diesen Deckmantel, in Bagdad, so habe ich mir erzählen lassen, ist an sexuellen Leistungen alles käuflich, die meisten Frauen, die sich prostituieren, tun dies um des schieren Überlebens willen.
Ein weiterer Rückschritt ist auf dem Gebiet der Polygamie zu verzeichnen. Zwar kann sich ein Mann realistischerweise kaum eine zweite oder dritte Frau leisten Andererseits wird eine Frau, wenn sie erst arm genug ist, auf alles eingehen, um auch nur eine minimale Versorgung garantiert zu bekommen. Ein hehres Vorbild haben die Iraker da in ihrer herrschenden Klasse: Von Saddam Hussein ganz zu schweigen – dessen Zweit- und Drittehe im Irak nur inoffiziell bekannt sind -, gibt es immer mehr Polygamisten in der Führungsschicht.
Der bekannteste ist Izzat Ibrahim, ein bigottes, magenkrankes Männchen, wegen seiner Haar- und Hautfarbe im Volksmund „Karotte“ genannt, der es auf vier Frauen bringt. Die kurioseste Zweitehe ist wohl die von Industrieminister (und Rüstungsminister!) General Amr Rashid, einer der intellektuell Brillantesten des Regimes, der vor nicht allzu langer Zeit die berühmte Biologin Rihab Taha heimführte, die im Westen als „Dr. Germ“ bekannt ist und als Mutter des biologischen Waffenprogramms des Irak gilt.
Was eine Frau wie Rihab Taha dazu treibt, so einem Deal zuzustimmen, und was für eine Rolle die erste Frau von Amr Rashid spielt, weiß man nicht. Tatsache ist, dass jemand gesellschaftlich Angesehener durch eine solche Ehe noch vor wenigen Jahren der Ächtung anheim gefallen wäre. Heute gelten traditionelle Konventionen im Irak nichts mehr – zur Emanzipation der Frau hat das aber nicht beigetragen, im Gegenteil. Nicht einmal auf dem Gebiet der Geburtenkontrolle, die eine endgültige Verelendung mancher Familien vielleicht verhindern könnte: In einem Land, in dem es nicht einmal Aspirin gibt, sind auch Verhütungsmittel Mangelware.
Gudrun Harrer ist Islamspezialistin und Leiterin des Ressorts Außenpolitik der Tageszeitung DER STANDARD
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