In der Regenzeit ist es wirklich schlimm“, schildert die Frau. „Das Wasser vermischt sich mit dem Kot, und wenn wir ihn [auf dem Kopf] tragen, rinnt es uns aus den Eimern auf die Kleider, den Körper, das Gesicht. Wenn ich nach Hause komme, fällt es mir manchmal schwer, etwas zu essen. Der Geruch geht nie ganz raus aus meinen Kleidern, meinen Haaren. Aber das ist unser Schicksal. Will ich meine Kinder durchbringen, bleibt mir nichts anderes übrig als diese Arbeit zu machen.“
Narayanamma war 13, als sie damit begann, menschliche Exkremente zu entsorgen. Heute ist sie 35. Der Gestank ist ekelerregend, wirft einen fast um. Zuerst schiebt sie den Kot zu Haufen zusammen, dann schaufelt sie ihn mit zwei dünnen Zinnblechen in einen Bambuseimer. Den trägt sie an einen Ort, wo später ein Traktor zum Abholen vorbeikommt. Keine Handschuhe. Kein Wasser zum Waschen. Ihren Sari wickelt sie möglichst eng, damit er nicht am Boden schleift oder den Kot berührt. Aber es ist fast unmöglich, einen ganzen Tag zu arbeiten, ohne mit der Kleidung oder dem Körper am Kot anzukommen. Narayanamma und 800.000 weitere Toilettenreinigerinnen stehen auf der untersten Stufe des indischen Kastensystems. Sie werden von allen verachtet. Sie sind mit einem lückenlosen sozialen Ausschluss konfrontiert, von der Wiege bis ins Grab. Sie sind das andere Gesicht Indiens, das niemand gerne sieht – zu stark ist der Kontrast zum Image eines technologisch fortschrittlichen Landes und dem „Wir haben die Bombe und gehören nicht mehr zur Dritten Welt“-Gerede.
Der Bahnhof im südindischen Chennai (Madras) illustriert diesen Kontrast perfekt. Man kann dort seinen Laptop anschließen und E-Mails herunterladen, Mobiltelefone aufladen, sich in Restaurants und Imbissständen mit Hamburgern, Mousse au Chocolat, chinesischen Spezialitäten und gleich nebenan mit Hot Dosas1 und Chicken Tikka2 verpflegen. Aber nur wenige Meter weiter sieht man Frauen, die auf die denkbar primitivste Art den Kot zwischen den Gleisen herausholen, mit Stock, Besen und Blechschaufel. Warum existiert dieser völlig obszöne Gegensatz?
Weil kaum jemand will, dass sich etwas ändert. Was als Kastendenken bezeichnet wird, durchdringt die indische Gesellschaft bis in ihre feinsten Poren, versteckt und beinahe hinterlistig. Es ist ein komplexes Phänomen, und nur wenige Inderinnen und Inder erfassen es in seiner Gesamtheit. Zwar ist die Kastenhierarchie ein Konstrukt der Hindus, doch hilft es nicht immer, die Religion zu wechseln: Selbst wer zum Buddhismus, Christentum, zur Sikh-Religion oder zum Islam konvertiert ist, bleibt bei der Suche nach Ehepartnern oft der früheren Kastenidentität treu.
Nach Ansicht von SozialwissenschaftlerInnen entstand das indische Kastensystem als eine Art der Arbeitsteilung und als Methode, die Gesellschaft zu kontrollieren und die Ordnung aufrechtzuerhalten. Seine Macht – und seine fast absolute Akzeptanz – verdankt sich jedoch dem Umstand, dass es in den Augen der indischen Bevölkerungsmehrheit aus religiösen Gründen gerechtfertigt ist. Nach dem 4.000 Jahre alten Manu Sashtra3, dem Gesetzbuch des Manu, ist die Gesellschaft in vier große Gruppen oder Varnas unterteilt, die jeweils einem bestimmten Teil des Schöpfergottes entstammen: dem Kopf die Brahmanen, eine priesterliche Elite und die reinste Kaste; den Armen die Kshatriyas, die Krieger und Herrscher; den Beinen die Vaishyas oder Händler. Aus den Füßen schließlich entstammen die Sudras, die niedrigste Kaste, dazu bestimmt, den anderen drei zu dienen.
Abgesehen von diesen vier Varnas gibt es mehr als 3.000 Unterkasten, die Jatis. Jede einzelne grenzt sich mehr oder weniger stark von den anderen ab. Eine orthodoxe Brahmanenfamilie wird keine Heirat mit einem Brahmanen aus einer etwas anderen Unterkaste akzeptieren, und die meisten werden es ablehnen, etwas zu essen, das von jemandem aus einer niedrigeren Kaste gekocht wurde.
Die „Unberührbaren“ am unteren Ende der sozialen Leiter galten als derart unrein, dass sie Manu nicht einmal in sein System aufnahm. Ihr völliger Ausschluss aus der übrigen Gesellschaft war die Folge. Ihre Siedlungen befanden sich außerhalb der Dörfer, und sie durften mit Angehörigen anderer Kasten weder sprechen noch die selben Wege wie sie benutzen, geschweige denn sie berühren. Als die Briten Indien regierten, ließen sie das Kastensystem unberührt, um keine Unruhen auszulösen. In mancher Hinsicht stärkten sie es sogar, denn sie sahen die Brahmanen als nützliche Armee von Angestellten und Beamten, als treue Diener des britischen Reichs.
Heute bezeichnen sich die Unberührbaren in Indien als „Dalits“ oder „gebrochene Menschen“. Allein in Indien leben 180 Millionen Dalits; rund um die Welt gibt es weitere 60 Millionen Menschen, die von ähnlichen Diskriminierungen betroffen sind. Eine alltägliche Diskriminierung in Indien ist etwa das „Zwei-Gläser-System“: Dalits werden in vielen Gaststätten nicht bedient. Sie müssen draußen bleiben und ihren Tee abgesondert von anderen Gästen trinken. Becher für „Unberührbare“ gibt es auf einer eigenen Schank. Ein Dalit-Gast muss einen Becher nehmen und ihn vorsichtig auf die Schank stellen, ohne den Kellner zu berühren. Der Tee wird dann aus sicherer Distanz in den Becher gegossen, um das Risiko einer Verunreinigung auszuschließen. Die Becher sind dann von den Dalits zu waschen und wieder auf die Dalit-Schank zu stellen.
Es ist wie ein Fluch, der auf Indien lastet: 57 Jahre nach der Unabhängigkeit sind Dalits nicht nur weiterhin täglich mit Ungerechtigkeiten konfrontiert, sondern können ermordet, vergewaltigt und auf bösartige Weise gedemütigt werden, bloß weil sie versucht haben, aus der Kastenfalle zu entkommen und fordern, wie alle anderen behandelt zu werden. Was ihnen vorgeworfen wird, ist – für Außenstehende – oft geradezu lächerlich, etwa mit Schuhen durch das Dorf der herrschenden Kaste zu gehen, Fahrrad zu fahren oder eine Kleidung zu tragen, die von den Dorftyrannen als anmaßend betrachtet wird, als weit über dem, was ihnen zusteht.
Oft stimmt das ganze Dorf einer Bestrafung stillschweigend zu, und das Verprügeln, die Vergewaltigung oder Demütigung wird in ein öffentliches Schauspiel verwandelt, um der gesamten Kaste eine Lektion zu erteilen, sie an ihren Platz in der Gesellschaft zu erinnern. Das ist das Kastensystem in seiner hässlichen, unverschleierten Form. Es passiert so häufig, dass indische Zeitungen es oft nicht der Mühe wert finden, darüber zu schreiben.
Bleibt die große Frage: Warum hat sich so lange so wenig geändert? Unmittelbar nach der Unabhängigkeit gab es Menschen mit einer Vision, die Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit für alle hieß. Mahatma Gandhi stand an der Spitze dieser Bewegung. Dazu wäre aber Wiedergutmachung nötig gewesen, die Verteilung von Land an die Landlosen, und man hätte jenen Vorrechte gewähren müssen, die Tausende Jahre lang unterdrückt und missachtet worden waren. Die brillante indische Verfassung sah all das vor. Bhim Rao Ambedkar, ein Dalit-Politiker und Intellektueller, war ihr Architekt. In der Verfassung wurden alle Gruppen der Kastenlosen und alle indigenen Völker Indiens (offiziell die „Scheduled Castes and Tribes“) aufgelistet und Leitlinien für ihre positive Diskriminierung festgelegt, das so genannte „Reservierungssystem“, um sicherzustellen, dass diese Gruppen aus Knechtschaft und Armut befreit werden.
Trotzdem hat sich die Lage kaum verbessert, da die Verfassung ebenso wie später verabschiedete einschlägige Gesetze ignoriert oder verletzt werden. Auch heute sind die Dalits die Ärmsten der Armen; sie stellen die Mehrheit der arbeitenden Kinder, der AnalphabetInnen, der Menschen in Schuldknechtschaft, weisen die schlechtesten Gesundheits- und Bildungsindikatoren auf und erledigen die miesesten Arbeiten.
Viele fühlten sich von Gandhis Aufruf inspiriert, die Nation neu aufzubauen. Aber nach der Unabhängigkeit traten Gier und Machtpolitik an die Stelle des Opfergeistes. Die Bewegung hatte zu beschränkte Ziele; sie war zu zersplittert, um wirklich Einfluss auszuüben, und ihre FührerInnen wurden korrumpiert. Dass die vielen Regierungen nicht fähig waren, die Dalits zu schützen, wird in der akademischen Diskussion auf einen „Mangel an politischem Willen“ zurückgeführt. In der Praxis heißt das, dass die Polizei einfach zusieht, wenn sich Oberkastenangehörige zusammenrotten und Dalits bei lebendigem Leib verbrennen, weil im Dorf die Ansicht herrscht, sie wären zu frech geworden. Landeigentümer, die sich wie Feudalherren aufführen, werden von korrupten BeamtInnen und Regierungsmitgliedern dabei unterstützt, die alte Ordnung aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig huldigen alle in Sonntagsreden der Verfassung, und in Regierungsdokumenten wimmelt es von scheinheiligen Lippenbekenntnissen.
Wenn Indien auch in punkto Gräueltaten seinesgleichen sucht, ist die Lage im Nachbarland Nepal kaum besser. In allen Gebieten mit starker indischer Einwanderung ist Kastendiskriminierung gang und gäbe. Andere Formen der Kastendiskriminierung unabhängig von der Hindu-Tradition existieren in vielen Ländern Asiens und Afrikas. In einer aktuellen UN-Studie4 wurde die Kastendiskriminierung neu definiert, und zwar als Diskriminierung „aufgrund der Abstammung, Arbeit oder Beschäftigung“. Als betroffene Länder bzw. Regionen wurden Äthiopien, Bangladesch, Burkina Faso, Fidschi, Großbritannien, Indien, Japan, Jemen, die Karibik, Kenia, Libyen, Mali, Malaysia, Mauretanien, Mikronesien, Nepal, Niger, Nigeria, Nordamerika, Pakistan, Ruanda, Senegal, Somalia, Sri Lanka und Uganda genannt.
Eine perverse Entwicklung ist die Tatsache, dass die Kastendiskriminierung in Diaspora-Gemeinschaften westlicher Länder in den letzten Jahren zugenommen hat – offenbar, da diese Gemeinschaften immer größer werden. Außerdem hat der Aufstieg des Hindu-Fundamentalismus das „Sei stolz auf die eigene Kultur“ (= „Kaste“)-Syndrom gefördert und zu mehr Absonderung, zu separaten Tempeln und Gurdwaras (Sikh-Gebetsstätten) und anderen hässlichen Formen der Diskriminierung geführt.
So düster die Lage auch aussieht, Hoffnung gibt es trotzdem. In der facettenreichen Geschichte Indiens gab es stets Menschen, die sich für die Rechte der Unterdrückten einsetzten. Schon bevor Gandhi für die Rechte der Dalits kämpfte, hatten christliche MissionarInnen begonnen, sich um ihre Bildung zu kümmern. Ihr Motiv – die Bekehrung der Heiden – war fragwürdig, und viele gestatteten den Konvertiten aus höheren Kasten, ihre Kastenidentität beizubehalten. Trotzdem haben sie mehr zur Bildung der Dalits und Adivasi (Angehörige indigener Völker) beigetragen als irgendwer sonst – und Bildung, wie Martin Macwan bekräftigt, seit 25 Jahren Dalit-Politiker im Teilstaat Gujarat, ist im Kampf gegen die Kastenunterdrückung eine tödliche Waffe.
In den 1970er Jahren begann die Ära einer anderen Art des Aktivismus: Es ging nicht mehr um Wohltätigkeit, sondern darum, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen. Seit drei bis vier Jahrzehnten setzen sich Menschen für die Rechte der Dalits ein und bekämpfen in ganz Indien die Polizei, feudalistische Landeigentümer und ausbeuterische Unternehmer, ob in Einzelfällen, auf regionaler und nationaler Ebene. Sie unterstützen Dalits in ländlichen Gebieten, die trotz gewaltsamer Repression durch herrschende Kasten und die Polizei ihre Rechte einfordern.
Gleichwohl ist die Lage in Nordindien düster, und insbesondere im Teilstaat Bihar hoffnungslos. „Wir erwarten keine einfachen Lösungen oder raschen Ergebnisse“, erklärt Paul Divakar, Leiter der National Campaign for Dalit Human Rights (NCDHR). „Wir müssen bestimmte Prozesse durchmachen, um uns von der ‚brahmanischen Denkweise‘ zu befreien. Anfang der 1950er Jahre kämpften wir gegen sichtbare Formen der Unberührbarkeit, heute hat die NCDHR beschlossen, für Landrechte zu kämpfen. Land ist eine zentrale Frage bei der Abschaffung der Unberührbarkeit. Dem Papier nach haben 80 Prozent der Dalits in ländlichen Gebieten Zugang zu Land, aber sobald sie versuchen, dieses Land unter Kontrolle zu bringen, gehen die Attacken los.“
Änderungen gab es auch auf politischer Ebene. Dass 1997 mit K.R. Narayanan ein Dalit zum Präsidenten gewählt wurde (siehe Gespräch auf Seite 34), war kein geringer Erfolg. Im letzten Jahrzehnt entstanden einige starke Dalit-Parteien, die zwar ebenso korrupt sind wie alle anderen, deren Existenz den Dalits jedoch einige Verhandlungsmacht und politischen Raum verschafft. In jüngerer Zeit hat der Erfolg der NCDHR im Vorfeld der Weltkonferenz gegen Rassismus in Südafrika von 2001 den Basisbewegungen der Dalits neuen Auftrieb gegeben. In vielen Hauptstädten indischer Teilstaaten wurden öffentliche Anhörungen organisiert, bei denen Dalits ihr Herz ausschütteten und über ihre erschütternden Erlebnisse sprachen. Die Anwesenden reagierten oft tief bewegt. Manche ließen ihren Tränen freien Lauf. Nach einer breiten Unterstützungskampagne wurde die Dalit-Frage endlich von der UNO aufgegriffen. Im März 2005 wurden zwei SonderberichterstatterInnen ernannt und beauftragt, einen umfassenden Bericht zu erstellen. Sie werden jährlich über die „Diskriminierung aufgrund der Arbeit und der Abstammung“ sowie über die Gegenmaßnahmen von Regierungen einschließlich der Strafverfolgung von TäterInnen berichten.
In Indien selbst kam es in den letzten fünf Jahren zu einer ermutigenden Entwicklung, und zwar in Gestalt der von der Dalit-Konferenz im Jänner 2002 verabschiedeten „Erklärung von Bhopal“ sowie des Common Minimum Programme (CMP), einer von der Kongresspartei durchgesetzten Verpflichtung der Regierung, sich für die Ärmsten einzusetzen. Erstmals wurde auch der Privatsektor aufgefordert, Arbeitsplätze für Dalits zu reservieren. Indische Unternehmen (an deren Spitze einige der reichsten Menschen der Welt stehen) wollen unbedingt das beschämende, rückschrittlich-feudale Image loswerden, das mit der Existenz der Kastendiskriminierung einhergeht. Das Bewusstsein über die gesellschaftliche Verantwortung nimmt zu, und vielen Unternehmen ist es sehr wichtig, an diesen Veränderungen beteiligt zu sein.
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1) salzige Pfannkuchen meist aus Reis- und Linsenmehl
2) Hähnchenfiletstücke mit pikanter Joghurtsauce-Marinade
3) auch „Manu Sutras“ und „Manu Smriti“
4) Im Web unter
www.idsn.org/un.html