„Immer weniger Demokratie in Europa“

Von Redaktion · · 2010/11

Demokratisierung war ein Ziel der Invasionen in Irak und Afghanistan. Wie stellt sich die Situation heute dar? Antworten von Robert Fisk, Kenner des Mittleren Ostens, aus Beirut.

Wie wird die westliche Demokratie heute im Mittleren Osten wahrgenommen?
Robert Fisk:
In Europa scheint es immer weniger Demokratie zu geben. Präsidentielle Regierungsformen nehmen zu; Parlamentsabgeordnete haben einfach nichts mehr zu sagen. Menschen im Mittleren Osten lesen über den Westen wie wir über den Mittleren Osten. Sie wissen darüber Bescheid, dass das „demokratische Defizit“ ein Thema ist; ihnen ist bekannt, dass es eine zunehmende Distanz zwischen der WählerInnenschaft im Westen und ihren RepräsentantInnen gibt. Daher fragen mich hier viele, warum wir versuchen, Demokratie zu predigen, wenn es bei uns selbst nicht so viel davon gibt. Der Begriff wird mit einigem Zynismus aufgenommen.
Ich glaube, dass viele Menschen hier gerne viel Demokratie hätten; sie hätten gerne einige Packungen Menschenrechte direkt von unseren Supermarktregalen. Aber worüber sie reden, das ist Ungerechtigkeit – und Gerechtigkeit gehört meiner Ansicht nach nicht zu den Dingen, die wir dem Mittleren Osten bringen wollen.

Wahlen sind ein zentraler Bestandteil westlicher Demokratien. Welchen Einfluss haben Wahlen im Mittleren Osten gehabt?
Die Effekte waren grotesk. Jeder Präsident behauptet, dass seine Wahl fair war, und jede Präsidentschaftswahl ist manipuliert, deshalb bekommt Herr Mubarak 98 Prozent der Stimmen und Saddam bekam immer 100 Prozent. Es ist eine Farce, aber das Interessante dabei ist, dass scheinbar angenommen wird, mit Wahlen hätte man mehr Legitimität – selbst wenn sie vollkommen gefälscht wurden. Sie wollen sagen: „Wir haben auch Wahlen, wir haben ein Parlament, einen Präsidenten, wir wählen ihn“, auch wenn wir alle wissen, dass in den arabischen Ländern, wo es Wahlen gibt – mit der Ausnahme von Libanon, wo der Prozess einigermaßen fair ist – es nicht wirklich auf die Wahlen ankommt.

Im Mittleren Osten sind Wahlen ein Werkzeug, ein Instrument; sie sind nicht dazu da, die Meinung der Bevölkerung widerzuspiegeln: sie sind dazu da, die Auffassungen des Mannes darzustellen, der gewählt werden wird.

Im Mittleren Osten haben wir daher gefälschte Wahlen, die als echte Wahlen präsentiert werden; im Westen haben wir echte Wahlen, die sich oft als gefälscht herausstellen, in dem Sinne, dass unsere Abgeordneten nicht das tun, was wir von ihnen wollen. Im Westen können wir uns zumindest darauf verlassen, dass die Stimmzettel gezählt werden; sie werden nicht in den Nil geworfen oder über Nacht im Innenministerium verbrannt. Aber was haben wir getan? Wir haben unsere Demokratie in einen Schrein eingesperrt und gleichzeitig Diktaturen im Mittleren Osten unterstützt, die Demokratie spielen dürfen. Wir waren viele Jahre die besten Freunde Saddams. Wir lieben Mubarak, einen „gemäßigten“ Politiker, obwohl klar ist, dass Präsidentschaftswahlen wie in Ägypten ein Schwindel sind.

Was sollte also getan werden?
Sagen wir: Führt ein bisschen Demokratie ein und ihr werdet sein wie wir? Oder betrügen wir sie, wenn wir das sagen? Wir glauben an Gerechtigkeit, aber wir sorgen nicht für Gerechtigkeit im Mittleren Osten. Schauen wir uns die Situation doch an. Wir haben keinerlei Absichten, die PalästinenserInnen in ihre Heimat zurückkehren zu lassen. Wir predigen Gerechtigkeit, aber ich glaube nicht, dass wir daran interessiert sind.

Im Mittleren Osten weiß man genau, was die Geschichte der Region angetan hat und was wir [der Westen] in der Geschichte getan haben. Ich bin mir daher nicht wirklich sicher, ob sie immer unsere Produkte wie Menschenrechte oder Demokratie kaufen wollen, denn wir haben sie ihnen nicht immer vorgelebt. Bombardiert haben wir sie dagegen sehr oft.

Als ich in den USA, in Kanada, Europa Vorträge hielt, fragten mich ziemlich viele Leute: „Was können wir tun?“ Ich sagte dann in der Regel: Geht zu amnesty oder Human Rights Watch. Heute sage ich: Kommt her, seht euch den Mittleren Osten an, lernt ihn kennen. Wir können über die Ungerechtigkeit in der Region schreiben, damit die Menschen verstehen, warum bei den Menschen hier diese leicht entzündbare Wut auf den Westen existiert. Wir können einfach nicht davon predigen, wie wunderbar unser politisches System ist.

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