Im Würgegriff der Zivilisation

Von Simron Jit Singh · · 2000/07

Auch auf dem kleinen, streng von der Umwelt abgeschotteten Inselarchipel der Nikobaren im Golf von Bengalen hält der Geist der modernen Konsumwelt seinen Einzug, gefördert von gutgemeinten Sozial- und Entwicklungsprogrammen der indischen Regierung. Von der einzigen ehemals österreichischen Übersee-Kolonie berichtet der indische Ethnologe und Ökologe Simron Jit Singh

Der Weltmarkt und die westlichen Entwicklungsparadigmen bedrohen auch noch so entlegene nachhaltige und stabile Gesellschaften auf der ganzen Welt. Kulturelle Vielfalt geht verloren, soziale Beziehungen werden aufgelöst und die psychologische Landschaften zerstört.

Die in der Bucht von Bengalen, östlich der indischen Küste gelegene Inselgruppe der Nikobaren bietet ein Beispiel dafür. Die Inseln stehen seit 1956 unter dem strikten Schutz des Protection of Aboriginal Tribes-Gesetzes. Dennoch hat in den letzten zwei Jahrzehnten die lokale indische Verwaltung dort eine Reihe von hektischen Aktivitäten gesetzt , die der Entwicklung und dem Wohlstand ihrer BewohnerInnen dienen sollten. Denn der Lebensstil der Eingeborenen sei minderwertig und solle folglich von einem anderen, einem besseren ersetzt werden.

Die Nikobaren als Teil des Andamanen- und Nikobaren-Archipels bilden in etwa 1200 km Entfernung von der indischen Ostküste einen Bogen von 850 km Länge. Die insgesamt 319 Inseln bedecken eine Fläche von 8249 km2. Auf den von einer einzigartigen tropischen Vegetation überzogenen Inseln leben sechs verschiedene Völker. Zwei davon sind noch Jäger-Sammler und schützen mit Pfeil und Bogen ihre Territorien vor der Außenwelt. Nur 12 der 22 Inseln der Nikobarengruppe sind bewohnt. Die Menschen betreiben traditionellerweise Gartenbau und züchten Schweine. Sie ernähren sich hauptsächlich von Pandanus-Früchten, Yams- und Taro-Knollen, Papayas, Bananen, Schweinefleisch und in der letzten Zeit auch Reis. Kokos- und Betelnuss sind verbreitet, werden aber vor allem als Tauschmittel eingesetzt.

Vor der Ankunft des Christentums zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Animismus die einzige Religion auf den Nikobaren, geprägt von Geisterverehrung, Zauberdoktoren und Tieropfern, vor allem Schweine und Geflügel, Geburts- und Totenritualen und Naturverehrung. In der Kosmologie der Nikobaren gelten Bäume, Pflanzen, Tiere und Menschen als ein einziges zusammenhängendes geistiges und moralisches.

Der Reichtum an Kokos- und Betelnüssen und Bernstein zog zu Beginn des letzten Jahrhunderts muslimische Händler aus dem Westen Indiens an. Der Handel blühte bis zur Mitte des Jahrhunderts, als das unabhängig gewordene Indien strenge Gesetze zum Schutz der eingeborenen Völker erließ.

Heute wird der Export von Kokos- und Betelnuss von zwei einheimischen Kooperativen reguliert, die auch für die Einfuhr von Konsumgütern und deren Verkauf zu günstigen Preisen verantwortlich sind.

Obwohl Fremden der Zugang zu den Inseln verwehrt ist, sind ihre BewohnerInnen gut mit der globalen Wirtschaft und Kommunikation verbunden. Mehr als die Hälfte der BewohnerInnen haben Satellitenfernsehen. Die Verlockungen der modernen Konsumwelt passen jedoch mit der Alltagsrealität auf den Inseln nicht zusammen. Die Jugend lehnt die traditionellen Lebensformen ab, kann aber mit den Problemen und Schwierigkeiten des modernen Lebens nicht richtig umgehen. Die Bedürfnisse haben sich vervielfacht.

In den beiden letzten Jahrzehnten ist die Nachfrage nach Luxusgütern wie Fernsehen, Motorrädern, Kühlschränken, Musikanlagen, Goldschmuck, Parfüms, moderner Kleidung und Möbeln dramatisch gestiegen. Die traditionellen Behausungen werden im Zuge eines Wohnbauprogramms der Regierung durch Betonhäuser ersetzt, da natürliche Baustoffe wie Stroh und Edelholz knapp geworden sind. Das charakteristische traditionelle Großfamiliensystem – Tuhet – löst sich auf; die neue Generation schätzt den privaten Raum und baut ihre eigenen Häuser.

Die Einführung von Geld, die Entwicklung des Handels und die Internationalisierung der Wirtschaft sowie die Auswanderung haben eine neue materielle Kultur entstehen lassen. Die die traditionellen Produktions- und Lebensformen ändern sich zwangsläufig. Das Konzept der Kapitalakkumulation in Form von Geld oder materiellen Gütern hat zu einer Intensivierung der Produktion und der Ausbeutung natürlicher Ressourcen geführt. Durch die Arbeitsmigration werden neue Werte importiert, die mit einem ökologisch nachhaltigen Lebensstil schwer vereinbar sind.

Die Bedeutung der Geldwirtschaft zusammen mit der Nachfrage nach Copra (eine Verarbeitungsform der Kokosnuss) für den Export hatte eine Steigerung der Produktion zur Folge. Copra dient zur industriellen Herstellung von Öl, Speisefett, Seife und Margarine. Die Kokosnüsse, die früher an die Schweine verfüttert wurden, dienen nunmehr der Copra-Erzeugung.

Früher trocknete man den Kern der Kokosnuss in einem langsamen Prozess in der Sonne. Jetzt werden die Früchte 24 Stunden lang auf kleinem Feuer getrocknet. Dadadurch ist die Nachfrage nach Brennholz gestiegen. Heute ist auf der Hauptinsel Car, wo sich auch die Distriktverwaltung befindet, kaum mehr Wald zu finden. Durch die Abholzung wurde nicht nur den Lebensraum von Pflanzen und Tieren, sondern auch Süßwasserquellen zerstört. Die Bodenerosion schreitet voran.

Eine weitere bedrohliche Entwicklung ist der illegale Handel. Die Nikobaresen besitzen besondere Rechte an den sie umgebenden natürlichen Ressourcen. Schmuggler aus Thailand, Burma, China und Indonesien benützen die Einheimischen – im Tausch gegen Geld oder billigen Tand – zum Jagen und Sammeln wertvoller Natur- und Meeresgüter. So sind mehrere Arten bereits ernsthaft bedroht, wie Seegurken, Krokodile, rote Korallen, verschiedene Seemuscheln, Schwalben und andere mehr. Ein Kilogramm der (essbaren) Schwalbennester brachte auf dem lokalen Markt vor wenigen Jahren bis zu 600 US-Dollar ein.

Die neue materielle Kultur treibt den Umsatz an Materie und Energie auf den Inseln laufend in die Höhe. Die Insel Car zum Beispiel hängt schon großteils vom Export und Import von Gütern ab. Ausgeführt werden in erster Linie biologisch sensible Güter, und eingeführt genau das Gegenteil: chemische Produkte, Kunstdünger, Treibstoff, Plastik, Batterien, künstliche Baumaterialien usw. Kunstdünger und Pestizide verschmutzen während der Monsunregen die Küstengewässer.

Die BewohnerInnen der Nikobaren erleben den Übergang von einer Subsistenz- zu einer Marktwirtschaft. Dieser, wenn auch langsame Wechsel hat ihre ursprüngliche Beziehung zur Umwelt als einem geheiligten Lebensraum schwer und dauerhaft angeschlagen. Das Ergebnis ist nicht nur die Auflösung der Mensch-Natur-Beziehung und einer nachhaltigen Nutzung der Umwelt, sondern auch die Entfremdung in den zwischenmenschlichen Beziehungen.

Trotz der strengen Abschottung von der Außenwelt durch das schon erwähnte Gesetz von 1956 lösen sich auf den Nikobaren traditionelle Lebens-und kulturelle Ausdrucksformen immer weiter auf. Der Grund dafür liegt vor allem in der doppelbödigen Politik der Regierung. Auf der einen Hand tritt die Lokalverwaltung wortreich für den Schutz der ethnischen Identität auf. Andererseits tut sie alles, um die Eingeborenen zu „zivilisieren“. Im Rahmen von Sozialprogrammen stellt sie ihnen billig modernes Baumaterial zur Verfügung, führt in der Erziehung westliche Konzepte ein, fördert das Fernsehen, die Vorführung von Unterhaltungsfilmen usw.

Unter dem Banner des Eingeborenenschutzes wurden die Nikobaresen allmählich dazu gebracht, sich kulturell und materiell der sogenannten modernen Zivilisation unterlegen zu fühlen. Die wohl gutgemeinten Versuche der Regierung sind nach hinten losgegangen und haben zu Desillusionierung und Minderwertigkeitsgefühlen geführt. Wenn die Regierung nicht mehr Sensibilität und Respekt vor dem kulturellen Reichtum der Stammeskulturen an den Tag legt, werden die Nikobaren wohl für immer an eine homogene und ökologisch schädliche moderne Zivilisation verloren gehen.

Der Autor hielt sich zu Forschungen für ein groß angelegtes Projekt zur Bewahrung und Förderung von Stammeskulturen schon mehrmals monatelang auf den Nikobaren auf. Der Humanökologe an der Universität Lund ist gegenwärtig Research Fellow am Institut für I

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