Eines ist hochoffiziell: Welche Erfolge in der weltweiten Armutsbekämpfung auch immer erzielt wurden, sie sind durch die weltweit anziehenden Nahrungsmittel- und Energiepreise ernsthaft bedroht. Derzeit gibt es wohl dutzende Millionen mehr arme und hungrige Menschen als nach bisherigen Schätzungen und Prognosen. Allein in Lateinamerika und der Karibik, warnte die Interamerikanische Entwicklungsbank Mitte August, könnten 26 Millionen Menschen bei anhaltend hohem Preisniveau in extreme Armut abrutschen; in Pakistan würden um 30% höhere Lebensmittelpreise 20 Mio. mehr Arme bedeuten, schätzt die Asiatische Entwicklungbank.
Legt man die länderspezifischen Anteile der entsprechenden Produkte/Dienstleistungen an den Haushaltsausgaben zugrunde, dürfte die Armut vor allem dort zunehmen, wo sie sich schon bisher als besonders hartnäckig erwies: vor allem in Afrika südlich der Sahara (siehe Weltkarte). Als hauptbetroffene Länder nennt der letzte Bericht des Internationalen Währungsfonds zum Thema von Ende Juni Haiti, Gambia, Swasiland und Mauretanien.
Diese Entwicklung illustriert auch die grundsätzlich verteilungspolitisch fatalen Effekte der Inflation: Sie ist eine Geißel der Armen, und nicht zufällig. Hauptgrund ist ihre Machtlosigkeit: Sie haben vergleichsweise weniger (oder keine) Möglichkeiten, eine Kompensation der sinkenden Kaufkraft ihres Einkommens durchzusetzen, weder gegenüber staatlichen Stellen noch gegenüber ArbeitgeberInnen oder auf dem Markt, falls sie als „UnternehmerInnen“ tätig sind. Das Problem beschränkt sich keineswegs auf arme Länder: Das Arbeitslosengeld in Österreich ist heute um 4% weniger wert als 2000, die Notstandshilfe sogar um 8%, wie die niederösterreichische Arbeiterkammer im August vorrechnete.
Neue WeltbankdatenGenau zwischen Redaktionsschluss und Veröffentlichung – am 26. August 2008 – hat die Weltbank nun die angekündigten Neuberechnungen der weltweiten Armutsdaten auf Basis des ICP 2005 veröffentlicht. Wie in China, so weltweit: Die Zahl der Armen ist weit höher als erwartet, doch die Trends bleiben gleich.
2005 lebten demnach anstatt rund 880 Mio. Menschen rund 1,4 Mrd. Menschen in extremer Konsumarmut. Näheres siehe
World Bank Updates Poverty Estimates for the Developing World.
Die Effekte der Inflation bei Nahrungsmitteln und Treibstoffen sind darin allerdings nicht enthalten.
Nicht die aktuelle, jedoch die frühere Inflation – eigentlich ihre Kenntnisnahme auf statistischer Ebene – hat jedoch bereits zuvor sämtliche bisherigen offiziellen Schätzungen über die weltweite Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, in Frage gestellt.
Im Rahmen des International Comparison Program (IPC) 2005, eines von der Weltbank koordinierten Projekts, wurde das Preisniveau vergleichbarer Warenkörbe in insgesamt 146 Ländern im Jahr 2005 erhoben. Ziel war die Ermittlung korrekter Kaufkraftparitäten (Purchasing Power Parities, PPP) – jener (theoretischen) Wechselkurse, zu welchen die Kaufkraft verschiedener nationaler Währungen in etwa gleich wäre. Insbesondere in Entwicklungsländern sind zahlreiche Produkte und Dienstleistungen relativ billiger als in reichen Ländern. Ihr Bruttoinlandsprodukt (BIP) lässt sich daher auf Basis von Kaufkraftparitäten realistischer schätzen – und liegt in der Regel weit höher als zu tatsächlichen Wechselkursen.
Daran hat auch das IPC 2005, dessen Ergebnisse Ende 2007 veröffentlicht wurden, nichts geändert. Allerdings ergab sich vor allem in asiatischen Ländern ein wesentlich höheres Preisniveau als bisher angenommen. Die Schätzungen des BIP etwa der Philippinen, aber auch von China (das sich erstmals an diesem Programm beteiligte) und Indien mussten auf Basis der neuen Daten jeweils um ca. 40% (!) herabgesetzt werden. Kräftige Korrekturen nach oben waren eher die Ausnahme: Das BIP von Nigeria von 2005 wird nun mit 247 Mrd. „internationalen“ Dollars fast doppelt so hoch geschätzt als zuvor, das von Russland erhöhte sich um rund zwölf Prozent auf 1.700 Mrd. Dollar.
Die statistische Schrumpfung der beiden asiatischen Riesen hatte natürlich Folgen. Etwa musste der (IWF) seine Angaben zum Wachstum der Weltwirtschaft für die Jahre 2002-2007 rückwirkend um jeweils ein halbes Prozent reduzieren. Auch dürfte die Wirtschaftsleistung der armen Länder jene der reichen Länder nicht bereits Ende 2008 überholen, wie im Südwind-Magazin 11/2006 („Zeitenwechsel“) berichtet, sondern (nach den IWF-Szenarios von April 2008) erst Ende 2013.
Was aber kritische ÖkonomInnen besonders aufschreckte, waren die möglichen Auswirkungen auf das Ausmaß der Armut. Manche befürchteten allein für China ein Plus von 300 Mio. Menschen. Mit diesen Fragen befassten sich zwei Working Papers der Weltbankökonomen Martin Ravaillon, Shaohua Chen und Prem Sangraula vom Mai des Jahres. Im ersten Paper wurde unter anderem argumentiert, dass die bisherige internationale Armutsgrenze von einem Dollar pro Tag (zu den geschätzten PPP von 1993, tatsächlich 1,08 Dollar) auf 1,25 Dollar zu den PPP von 2005 erhöht werden sollte. Im zweiten versuchten die Autoren, die Zahl der Armen in China von 1981 bis 2005 auf Basis der neuen Armutsgrenze zu schätzen. Dabei nahmen die AutorInnen Korrekturen vor, um die „urbane Schlagseite“ des vom ICP 2005 erhobenen Preisniveaus zu beseitigen: Es wurde nämlich in elf städtischen Regionen und ihrer unmittelbaren Umgebung ermittelt und hochgerechnet, während die gerade für die Armen essenziellen Nahrungsmittel in ländlichen Gebieten Chinas weit billiger sind.
Diesen Berechnungen zufolge lebten 2005 tatsächlich weit mehr ChinesInnen in extremer Konsumarmut als zuvor geschätzt – 204 Mio. anstatt 72 Mio. Doch die Reduktion der Armut war sogar noch markanter: Während die Zahl der extrem armen Menschen in China auf Basis der alten Daten von 1990 bis 2005 um 300 Mio. sank, verringerte sie sich nach neuer Schätzung um 490 Mio. (siehe Grafik).
Wie sich das Bild von der Armut im Rest der Welt durch die IPC-Daten für 2005 und die neuen Armutsgrenzen verändern wird, ist noch unklar. Entsprechende Neuberechnungen wie für China wurden von der Weltbank zwar angekündigt, liegen aber noch nicht vor. Generell dürfte sich, nicht zuletzt wegen der höheren Armutsgrenzen, ein weit höheres Ausmaß der weltweiten Armut ergeben – auch rückblickend. Allein mit den zusätzlichen 320 Mio. extrem armer Menschen von 1990 in China müsste ihre weltweite Zahl im selben Jahr von bisher geschätzten rund 1,2 Mrd. auf 1,5 Mrd. und ihr Anteil an der Weltbevölkerung von 28% auf 35% hinaufschnellen.
Sofern die Weltbank im Fall Chinas keine systematischen Fehler begangen hat, sollten die neuen Berechnungen jedoch an den – bisher festgestellten – Trends bei der Reduzierung der Armut nichts Wesentliches ändern: Erfolge in Asien, eher Stagnation in Lateinamerika und Afrika südlich der Sahara. Über die Gründe – die richtige, die falsche, zu viel oder zu wenig wirtschaftliche Liberalisierung etc. – kann davon unbeschadet weiter gestritten werden. Ein schlagkräftiges Argument für die eine oder andere Wirtschaftspolitik wird sich aus den neuen Daten kaum ableiten lassen. Sie werden aber – hoffentlich – die Position all jener stärken, die bereits bisher energischere Maßnahmen gegen die Armut gefordert haben.