Ich gestehe: Ich bin ein Dieb von Volkseigentum. Ich vergreife mich am Besitz chinesischer Volksdeputierter, genauer an ihren Radiergummis. Jeden März habe ich Gelegenheit dazu. Dann werde ich als Korrespondent zur Jahressitzung des Volkskongresses in die Große Halle des Volkes eingeladen.Wir Journalisten und Journalistinnen dürfen als Zaungäste den tagelangen Aussprachen der 2.954 Abgeordneten zuhören. Unsere Sicherheitsüberprüfung war diesen März State of the Art. Bei der Ankunft wurden wir hightechmäßig durchleuchtet. In meinem Passierschein steckten zwei Chips, die der elektronischen Einlasskontrolle alles über mich verrieten. Dann durfte ich zu den Debatten, bei denen sich die nach Provinzen in Gruppen aufgeteilten Abgeordneten gegenseitig ihre Berichte vorlesen.
Zuvor jedoch kam ich am Objekt meiner Begierde vorbei. Am Eingang jedes Sitzungsraums liegen in Mitnahmekästchen die „Ausrüstungen“ für einen Abgeordneten des Volkes vom Schuhputztuch bis zu gespitzten Bleistiften, Mitschreib-Papier, Spitzer, Heftklammern und Radiergummis. Auf allen steht als Aufdruck: „Große Halle des Volkes“.
Vor Jahren nahm ich beim Rausgehen meinen ersten Radiergummi mit. Seither tue ich das immer wieder. Ich beraube keinen Abgeordneten, weil sie ihre Notizen, wenn überhaupt, mit Markenfüller machen. Inzwischen sind sie auf iPhones, iPads und Laptops umgestiegen. Der Radiergummi aber bleibt weiter im Inventar. Für mich ist er ein nicht ausradierbarer Beweis, dass politische Reformen in Chinas Parlament noch nicht angekommen sind. Ich gestehe, ich nehme ihn ohne schlechtes Gewissen mit.
Johnny Erling
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