Hohler Diskurs vom Dialog

Von Guillaume Légaut · · 2006/04

Die Wirtschaftsräume Europa und Lateinamerika hätten noch viel Potenzial zum Ausbau der Beziehungen. Auf jeden Fall sollten diese mehr vom Gedanken der Partnerschaft und Gerechtigkeit als vom Profitdenken dominiert werden.

Auf Basis seit langem bestehender bilateraler Beziehungen hat die Europäische Union seit den 1960er Jahren ihre Verbindungen mit Lateinamerika ausgebaut. Diese Beziehungen haben sich in den letzten Jahrzehnten erheblich intensiviert: Seit Ende der 1970er Jahre wurden mehrere Kooperationsabkommen mit einer Reihe von Ländern abgeschlossen, darunter mit Argentinien, Brasilien und Mexiko, gefolgt von den Andenpaktstaaten (1980) und Zentralamerika (1984).
In den 1980er Jahren übernahm die Europäische Gemeinschaft in Zusammenhang mit den Bürgerkriegen in Zentralamerika eine Vermittlerrolle, doch in wirtschaftlicher Hinsicht waren keine großen Erfolge vorzuweisen. Nicht zuletzt auch deshalb, da der Beginn der Schuldenkrise in Lateinamerika in diesen Zeitraum fiel.
In den Beziehungen der Zivilgesellschaften beider Kontinente hingegen kam es während der 1990er Jahre zu signifikanten Veränderungen. In den beiden Jahrzehnten davor hatten sich lebendige und enge Solidaritätsbeziehungen in Zusammenhang mit den Kämpfen entwickelt, die in ganz Lateinamerika, von Chile bis Zentralamerika, gegen die Diktaturen und für die Achtung der Menschenrechte geführt wurden. Nach dem Ende der Militärherrschaften konzentrierte sich die Zivilgesellschaft auf die Stärkung des Demokratisierungsprozesses und engagierte sich für die neuen sozialen Bewegungen und die innovativen Institutionen partizipativer Demokratie, die charakteristisch für die Entwicklung in vielen Ländern der Region waren.

Aber auch auf offizieller Ebene markierten die 1990er Jahre eine neue Phase, geprägt vom Siegeszug der neoliberalen Politik (Privatisierung, Marktöffnung, drastische Reduktion der öffentlichen Ausgaben). Diese Politik führte zu einer einseitigen Öffnung der Märkte Lateinamerikas und in der Folge zu einer Welle von Privatisierungen staatlicher Unternehmen. In dieser Zeit verschärfte sich auch die Konkurrenz zwischen den USA und der EU um die Märkte in Lateinamerika.
Gegen Ende der 1990er Jahre änderte die EU ihre Politik und begann in Gestalt der Gipfeltreffen zwischen den Staats- und Regierungschefs aus Lateinamerika, der Karibik und der EU einen neuen, institutionalisierten Dialog. Lateinamerikanische Länder haben der EU mehrmals nahe gelegt, einen eigenständigen politischen Kurs einzuschlagen und eine auf mehr Gerechtigkeit gegründete Zusammenarbeit aufzubauen. Allerdings vergebens: Die EU spricht zwar ständig von Zusammenarbeit und Unterstützung, das vorrangige Ziel ihrer Abkommen mit Lateinamerika bleibt aber weiterhin eine Steigerung ihrer Anteile an den Exportmärkten der Region und eine raschere Handelsliberalisierung.

Seit April 2000 verhandeln die EU und der Mercosur – Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und seit Dezember 2005 auch Venezuela (mit Bolivien, Chile und Peru als assoziierte Mitglieder) – über ein bilaterales Assoziationsabkommen. Dabei geht es nicht nur um eine Liberalisierung des Handels, sondern auch um WTO-Themen wie eine Liberalisierung des öffentlichen Beschaffungswesens und wettbewerbsrechtliche Bestimmungen. Ziel der EU ist es, diese Verhandlungen mit der Unterzeichnung des ersten Freihandelsabkommens zwischen zwei Zollunionen auf dem vierten EU-Lateinamerikagipfel in Wien im Mai 2006 abzuschließen. Bereits 2000 war das Freihandelsabkommen zwischen Mexiko und der EU in Kraft getreten, 2002 wurde ein ähnliches Abkommen mit Chile unterzeichnet.
Im Rahmen des Allgemeinen Zollpräferenzsystems gewährt die EU den Andenländern (Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Peru und Venezuela) und Zentralamerika (Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Panama) einen bevorzugten Zugang für sämtliche Industrieprodukte und einige landwirtschaftliche Produkte, um diese Länder bei der Bekämpfung von Drogenanbau und Drogenhandel zu unterstützen. Im Mai 2004 gingen die EU, Zentralamerika und die Andenpaktstaaten einen Schritt weiter, indem sie einen Mechanismus zur gemeinsamen Bewertung der Fortschritte in der regionalen Wirtschaftsintegration einführten. Er soll auch dazu beitragen, die Voraussetzungen für zügige und effektive Verhandlungen über Freihandelsabkommen sicherzustellen. Die Verhandlungen über Assoziationsabkommen mit Zentralamerika und den Andenländern (unter Einschluss von Freihandelsabkommen) sollen ebenfalls auf dem EU-Lateinamerikagipfel in Wien aufgenommen werden.

Obwohl die EU mit 450 Millionen Menschen der Bevölkerung nach mit Lateinamerika/Karibik vergleichbar ist (derzeit knapp 560 Millionen), besteht in wirtschaftlicher Hinsicht eine große Asymmetrie – das Bruttoinlandsprodukt der EU ist je nach Berechnungsweise drei- bis sechsmal so groß. Die EU ist der zweitwichtigste Handelspartner der gesamten Region, für den Mercosur ist sie sogar der wichtigste. Umgekehrt steht der Mercosur erst an neunter Stelle der Handelspartner der EU. Während die EU vor allem Industrie- und chemische Produkte exportiert, bestehen die Ausfuhren des Mercosur in die EU großteils aus Agrarprodukten.
Der EU-Anteil am Außenhandel Zentralamerikas bzw. der Andenregion belief sich in den letzten zehn Jahren auf etwa 11% bzw. 14,1%, während etwa die Andenländer umgekehrt nur 0,8% des Außenhandels der EU repräsentieren. 2004 belief sich der Wert der Exporte aus Lateinamerika/Karibik in die EU auf 62,1 Mrd. Euro, jener der Ausfuhren aus der EU auf 54,8 Mrd. Euro. Die EU-Exporte nach Lateinamerika zeigten lange einen rückläufigen oder stagnierenden Trend, während die Importe leicht zunahmen. Seit 2002 übersteigen die Einfuhren der EUdie Ausfuhren, d.h. Lateinamerika erzielt nun eine positive Handelsbilanz.

Die lateinamerikanischen Länder betrachten die Unterzeichnung von Freihandelsabkommen mit der EU als Instrument, eine Öffnung der Landwirtschaftsmärkte der EU für ihre Produkte zu erreichen. Derart, so die Hoffnung, könnte das Zahlungsbilanzdefizit (Handelsbilanz plus finanzielle Transaktionen wie Investitionen, Schuldenrückzahlungen) mit der EU überwunden werden. Die Erfahrungen der Abkommen mit Mexiko und Chile haben aber gezeigt, dass diese keinesfalls zu einer Überwindung der strukturellen ökonomischen Asymmetrien zwischen beiden Regionen geführt haben. Die Liberalisierung hat die Verletzbarkeit der Wirtschaften dieser Länder gesteigert: Spezialisierung auf eine kleine Zahl von Exportprodukten, Intensivierung der Agrarwirtschaft, größere Abhängigkeit von transnationalen Unternehmen, größerer Wettbewerb für lokale Produzenten.
Die Abkommen wurden von der EU vielmehr dazu benutzt, Themen wie den Handel mit Dienstleistungen, den Schutz geistiger Eigentumsrechte und der Investitionen sowie eine Liberalisierung des öffentlichen Beschaffungswesens einzuführen. Doch genau gegen diese Themen wehren sich die Entwicklungsländer im Rahmen der WTO, da sie mit nachteiligen Auswirkungen auf ihre Wirtschaften rechnen.

Der brasilianische Präsident Lula hat in seiner Amtszeit des Öfteren betont, dass die Stärkung der regionalen Integration in Lateinamerika Vorrang haben sollte, um die externe Abhängigkeit Lateinamerikas zu verringern und dem Kontinent eine stärkere Verhandlungsposition gegenüber der EU und den USA zu verschaffen. Während das von US-Präsident Bush forcierte Projekt einer Gesamtlateinamerikanischen Freihandelszone (ALCA, nach den spanischen Anfangsbuchstaben) am Widerstand von Ländern wie u.a. Brasilien, Argentinien, Venezuela de facto bereits gescheitert ist, arbeitet Venezuelas Präsident Hugo Chávez mit Volldampf an einem Integrationsprojekt des lateinamerikanisch-karibischen Raumes namens ALBA (Bolivarianische Alternative für Lateinamerika und die Karibik). „Alba“ bedeutet auf Spanisch auch Tagesanbruch.

An den Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika wird das weltweite Spannungsverhältnis zwischen dem Marktparadigma einerseits und echter politischer Zusammenarbeit andererseits ersichtlich. Nach wie vor herrscht in Regierungen und internationalen Institutionen der Glaube an den freien Markt als Allheilmittel vor. Das Manifest des Alternativengipfels zum Wiener Präsidententreffen, das von vielen Organisationen der Zivilgesellschaft aus Europa und Lateinamerika unterzeichnet wurde, ruft dagegen zu alternativen Vorschlägen für die Beziehungen zwischen beiden Regionen auf, die auf einer politischen Kooperation mit dem Ziel einer nachhaltigen menschlichen Entwicklung beruhen.

www.alternativabolivariana.org www.alternativas.at

Der Autor ist Fachreferent bei CIDSE, dem in Brüssel angesiedelten Bündnis von 15 katholischen Entwicklungsorganisationen Europas.

Basic

Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!

  • 6 Ausgaben pro Jahr als Print-Ausgabe und/oder E-Paper
  • 48 Seiten mit 12-seitigem Themenschwerpunkt pro Ausgabe
  • 12 x "Extrablatt" direkt in Ihr E-Mail-Postfach
  • voller Online-Zugang inkl. Archiv
ab € 25 /Jahr
Abo Abschließen
Förder

Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.

Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

84 /Jahr
Abo Abschließen
Soli

Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!

Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

168 /Jahr
Abo Abschließen