Ein Mal Grenze und zurück

Von Emanuel Danesch · · 2007/07

Grenzen und deren Errichtung unterscheiden immer das Eine vom Anderen. Sie sind nie permanent, sondern werden ständig neu verhandelt. Ob es sich nun um Steueroasen, wirtschaftliche Ausbeutung, Grenzökonomien oder um kontrollierte Bestellungen von SaisonarbeiterInnen handelt: Um profitable Abläufe zu sichern, sind immer Grenzen nötig; um Kontrolle auszuüben oder ihr zu entgehen, ist immer ein Innen und Außen nötig.

Hier – dort, ich – du, wir – sie, Clubmitglied – OutsiderIn, FreieR BürgerIn – Häftling. Grenzen haben einen multiplen Charakter. Wir wollen im Folgenden mit der Frage nach der Funktion von Grenzen und Grenzziehungen auch eine Annäherung an deren Zeitverbundenheit finden – denn das gilt auch für zwischenstaatliche Grenzen, und selbst für den geografischen Nord-Süd-Zusammenhang: zumindest für jene Nutzungsgruppe, die von Grenzziehungen profitiert. Auf der einen Seite müssen klare Grenzen gezogen werden, um auf der anderen Seite völlig grenzenlose oder entgrenzte Prozesse zu gewährleisten.
Grenzen, Mauern und Zäune haben eine lange Tradition. Derzeit wird diese Tradition neu gebaut. An vielen Orten entstehen neue Mauern und Zäune, die eine Vorstellung davon vermitteln, wie das Hochmittelalter ausgesehen haben könnte. Die Funktion der Grenze ist immer dieselbe: Entweder der Schutz vor Invasionen und vor dem Eindringen unerwünschter Subjekte (die Angst vor einem Anderen, das von Draußen herein möchte, ist Grenzen seit jeher immanent) oder die Etablierung von Innen und Außen, was meist in ökonomischen Zusammenhängen gelesen werden kann.

Grenzziehungen tauchen im historischen Verlauf immer wieder in unterschiedlichen Formen, aber mit sehr ähnlichen bis identischen Funktionen auf: Die große chinesische Mauer mit einer Länge von 6.250 Kilometern – das größte Bauwerk der Welt – sollte vor feindlichen Völkern schützen und die Handelskarawanen entlang der Seidenstraße sichern. Ebenso wurden die mittelalterlichen Stadtmauern zum Schutz vor feindlichen Übergriffen und zur Zollkontrolle errichtet.
Schon lange werden Ghettos angelegt, um spezielle Bevölkerungsgruppen zwangsmäßig und kontrollierbarer an einem definierten Ort verwahrt zu wissen. Die Berliner Mauer war nicht das letzte Bauwerk seiner Art mit der Funktion, ein Eindringen oder vielmehr ein Abwandern zu verhindern.
Sie wird oft mit der Mauer in Israel verglichen, die israelische und palästinensische Gebiete trennen wird – letztendlich soll die Länge der Mauer bei etwa 600 bis 700 Kilometern liegen.
Auch Saudi Arabien möchte demnächst mit dem Bau eines Megaprojektes, der „großen arabischen Mauer“, beginnen. Eine 900 Kilometer lange „High Security“-Grenze mit exklusiver Ausstattung wird Saudi Arabien zukünftig vom Irak trennen. Die Gefahren, die in letzter Zeit von irakischer Seite ausgehen, seien zu groß, um ohne Trennlinie auszukommen. Andere kleinräumigere Repressionssysteme, bei denen Grenzen zum Schutz und zur Sicherheit angelegt werden, sind Gefängnisse. Sie nehmen eine besondere Rolle ein, weil sie eng mit den Wahrheitsregimen verbunden sind, aus denen sie hervorgehen: Sie trennen nicht nur Außen von Innen, sondern sind mit einem Regelsystem verbunden, das weit in die Gesellschaft hineinreicht.

Grenze und Nation: Im Zusammenhang mit dem Thema Grenze spielt auch der Begriff der „Nation“ eine Rolle. Wie ein Spiegel seine Berechtigung erst durch sein Gegenüber bekommt, ist die Suche nach Identität immer auch ein Finden von Unterschieden. Überträgt man nun diese Vorstellung von Identität auf den Begriff der Nation, stellt sich ein Problem: Durch das Herausarbeiten von Unterschieden innerhalb einer Nation und der gleichzeitigen Negation immanenter Individuen oder Gruppen, die sich nicht mit dominanten Vorstellungen von „Nation“ decken, wird mit einem Schlag eine unendliche Zahl an Grenzen gezogen.
Grenzen haben also auch etwas mit Echtheit zu tun. Je echter eine Teilnehmerin, ein Teilnehmer einer klar definierten Gruppe im Verhältnis zu den Gruppen-Codes erscheint, desto größer ihre/seine Berechtigung, sich innerhalb der Gruppe aufzuhalten: ein gewisses Einkommen nachweisen, die lokale Sprache sprechen, eine bestimmte Musik hören, sich auf eine gewisse Weise kleiden, in einem bestimmten Rahmen benehmen, nach einem gewissen Regelsystem reagieren…

Temporäre Grenzen am Beispiel G8: Eine andere Art der Grenzziehung stellt die temporäre Grenze dar, wie man sie kürzlich in Deutschland erleben durfte: eine Mauer aus PolizistInnen mit glänzenden Schutzschildern bei einer Demonstration anlässlich des G8-Gipfeltreffens der mächtigsten Industrienationen der Welt. Den PolizistInnen gegenüber steht eine große Zahl an DemonstrantInnen, die sich in den Schutzschildern spiegeln. Das Gipfeltreffen fand unter dem Motto „Wachstum und Verantwortung“ vom 6. bis zum 8. Juni 2007 im Kempinski Grand Hotel Heiligendamm in Mecklenburg-Vorpommern, nahe der Stadt Rostock, statt. Rund um Heiligendamm, wo über Milliarden von nicht eingeladenen Menschen diskutiert und bestimmt wurde, marschierten Mauern von PolizistInnen wie ferngesteuert auf DemonstrantInnen zu. Hinter den Polizeischildern gab der Einsatzleiter knappe Instruktionen, wie sich die Mauer zu verhalten habe: „Helm auf, vorwärts, stopp, trinken, Bananen essen, vorwärts …“
Vor dieser Grenze demonstrieren Tausende von Menschen in der Absicht, den Zaun zu erreichen, der sich 2,5 Meter hoch, mit NATO-Draht bestückt, zwölf Kilometer lang rund um den Tagungsort des Gipfels durch Wiesen und Wälder windet und an beiden Enden mit der Ostsee abschließt. Fast idyllisch mutet die Umgebung an, über die ständig Helikopter der Bundespolizei kreisen. Jetzt kommt der Wasserwerfer zum Einsatz, und eine Reihe bunt gekleideter DemonstrantInnen wird über die Wiese gespült. „Vorwärts“, so das Diktat im Helm mit Freisprecheinrichtung, und die ersten DemonstrantInnen stecken Schläge von Polizeiknüppeln ein. Wieder ist die Grenze um ein paar Meter verlegt. Und wieder haben ein paar DemonstrantInnen Platzwunden und schwerere Verletzungen.
Der Zaun ist derweil immer noch dort, wo er war. Zumindest bis entschieden ist, welcher Käufer das zwölf Kilometer lange Stück Geschichte einer neuen Bestimmung zuführen wird. An der Nachfrage nach solchen Trenneinrichtungen fehlt es nicht, sind sie doch vielerorts einsetzbar. Für die Verwendung an europäischen Außengrenzen ist der Zaun aber dennoch nicht geeignet: Dort kommt Hochtechnologie zum Einsatz.

In Ceuta, einer der spanischen Exklaven auf dem afrikanischen Kontinent, wurde 1996 ebenfalls ein Zaun gebaut, um potenzielle EinwandererInnen davon abzuhalten, europäischen Boden zu betreten. Diese Einrichtung ist permanent angelegt und das teuerste Stück Grenze Europas. Mit 21 Wachtürmen, 37 Kameras und 230 Scheinwerfern wird mit dem vier Meter hohen Doppelzaun auf einer Länge von achteinhalb Kilometern versucht, die Grenze dicht zu machen. Infrarotgeräte, Wärmedetektoren und Richtmikrophone melden auch nachts jede Bewegung und jedes Geräusch auf der anderen Seite der Grenze. Bei Bedarf sind Patrouillen binnen weniger Minuten zur Stelle. Nähert man sich diesem Stück Europa in Afrika, privilegiert durch den richtigen Reisepass, wird man mit einem großen Schild empfangen mit der Aufschrift „Ceuta ciudad abierta“ (Ceuta – offene Stadt).
Setzt man mit einem der unzähligen und oft von TouristInnen gebuchten Fährboote von dieser „offenen Stadt “ auf das nur 14 Kilometer entfernte europäische Festland über, findet man unzählige Urlaubsressorts, die ebenfalls mit sehr klaren Grenzen in Form von Mauern umgeben sind: Der Bau von Mauern liegt im Trend der Zeit. Es sind nicht nur Urlaubsdomizile mit ihren wechselnden Gästen und All-Inclusive-Angeboten, die ein klares Zeichen der Abgrenzung setzen, sondern oft auch baulich ähnlich angelegte, permanent bewohnte Siedlungen. Diese Anlagen wirken wie ein gebautes Kippbild „klassischer“ Ghettoisierungsformen mit verschobenen Vorzeichen.

Europa erlebt derzeit einen unglaublichen Aufschwung dieser geschlossenen, ummauerten und oft bewachten Wohnsiedlungen, „Gated Communities“ genannt. Dieses Wohnmodell verspricht Sicherheit, Service und Konformität und erfreut sich nicht nur in den USA, Südostasien, Südamerika oder im Nahen Osten großer Nachfrage. Immer öfter sind diese Siedlungsmodelle in der europäischen Wohnlandschaft zu finden. In Deutschland, Großbritannien, Spanien, Polen, Rumänien, Bulgarien, Portugal und Frankreich entstehen laufend neue Gated Communities und finden großen Anklang.
Die BewohnerInnen diverser Gated Communities lassen sich dabei längst nicht mehr durch Polaritäten wie „arm und reich“ definieren: Gerade in Europa werden immer mehr solcher abgeschotteter Siedlungen für Angehörige der Mittelschicht gebaut, die ein wachsendes Bedürfnis nach Sicherheit verspüren.
Auch in Österreich schafft sich die Wohnform der Gated Community ihren Raum. Die erste „softe“ Form eines solchen Corporate Village wurde im Jahr 1996 eröffnet. „Fontana“, so der Name eines von Frank Stronach erbauten Wohnparks mit angeschlossenem Golfplatz, befindet sich in Oberwaltersdorf unweit von Wien. Dort fehlen zwar ein paar der klassischen Kennzeichen einer Gated Community, doch werden diese durch entsprechende Adaptionen ersetzt. So gibt es kein verschließbares Tor oder sichtbares Wachpersonal am Eingang, und es sind nur Zäune oder dicht bewachsene Waldstücke, die dort die Grenzen bilden. Der Charakter eines „echten“, geschlossenen Wohnkomplexes ist durch die unübersehbaren weichen Grenzen trotzdem gewährleistet. Durch den räumlichen Abstand zur umliegenden Gegend, eine typisch modellhafte Bauweise und die Anordnung der Häuser wird gekonnt Abgeschiedenheit und Privatheit suggeriert. Wer den Film „Die Truman Show“ kennt und Jim Carreys Straßen in Seahaven (übrigens eine reale Gated Community namens „Seaside“) gemütlich und einfach zum Wohlfühlen findet, wird im Wohnpark Fontana eine willkommene Entsprechung erkennen.
Gegenwärtig wird von einem Wiener Bauträger eine weitere Gated Community für noch sicherheitbewusstere Menschen geplant: Entstehen soll eine „echte“ Gated Community mit allen Raffinessen und typischen Merkmalen eines geschlossenen Wohnsiedlungskomplexes, mit Sicherheitspersonal, Zufahrtskontrollen und Videoüberwachung.

Ob die Gated Community eine der dominanten Wohnformen der Zukunft in Europa sein wird, ist noch offen – sicher ist, dass sie eine der zukunftsadäquateren Wohnformen für die zahlungskräftige Ober- bis Mittelschicht darstellt. Das, obwohl Studien belegen, dass die Grenzen der Gated Communities ihre Hauptfunktion – Sicherheit – oft nicht erfüllen: Die Siedlungen sind wegen der Mauern von außen uneinsichtig und deshalb sehr beliebte Ziele für größer angelegte Einbruchserien.
Die wachsende Zahl an sicherheitssuchenden EuropäerInnen bringt neben dem Phänomen der Gated Communities weitere Transformationsprozesse in der europäischen Wohnlandschaft mit sich. Gegenüber der klar abgegrenzten Wohnsiedlung, der frei gewählten Lebensform innerhalb des persönlichen Wunschghettos – also der Community per Identitätsdefinition – steht die unfreiwillige Ghettoisierung, die zwar auch stark mit Identitätszuschreibungen zusammenhängt, dies aber unter gegensätzlichen Bedingungen.
Beispiele dafür sind ummauerte und seitens der Stadtverwaltung segregierte „Roma-Ghettos“ im Umkreis von Kazanlak in Bulgarien oder ein von MigrantInnen bewohnter Bezirksteil in Padua in Italien, der von der Mitte- Links-Stadtverwaltung durch eine drei Meter hohe und 84 Meter lange Stahlmauer abgegrenzt wurde. „Serenissima“, so der Name der Siedlung, liegt direkt an der Via Anelli in einem ruhigeren Stadtteil Paduas. Der Eindruck eines Freiluftgefängnisses wird durch einen Polizei-Checkpoint am Eingang zum Viertel noch verstärkt. Als Grund des Mauerbaus nannte der verantwortliche Bürgermeister Flavio Zanonato den Drogenhandel und die Prostitution, die dieses Viertel zur Problemzone werden ließen. Auch hier lösten die Mauern, Scheinwerfer und Videokameras ihr Sicherheits-Versprechen nicht ein: Auf der Rückseite der Siedlung, wo kein Polizei-Checkpoint steht, wird nun über die Mauer hinweg gedealt. Ironischerweise nützt die Mauer nun der Politik der Rechten: Der ehemalige Außenminister Gianfranco Fini sagte beispielsweise, dass die Via Anelli zeige, was passiert, „wenn wir mehr Einwanderer ins Land lassen als wir integrieren können“.

All diese Beispiele zeigen, dass der Bau von Mauern und Zäunen Probleme nicht löst, sondern diese nur verlagert und kurzzeitig aus dem Sichtfeld rückt, um sie bald darauf in minimal veränderter Form mit zusätzlichen Problemen im Schlepptau wieder massiv Realität werden zu lassen. Weder wird die illegale Einwanderung durch den Bau von Zäunen gestoppt noch der Handel mit Drogen unterbunden. ImmigrantInnen sind immer größeren Gefahren und der Willkür der Organisatoren illegalisierter Einwanderung ausgesetzt, und Drogen finden auch über Zäune und Mauern hinweg den Weg vom Händler zum Käufer. Trotzdem wird der Eindruck erweckt, dass es für die ganz unterschiedlichen Problemstellungen Einwanderung und Drogen ein und dieselbe Lösung gibt: Mauern. So dient der Bau der Mauern einer gefährlichen Vermischung von Drogen und Migration in der öffentlichen Wahrnehmung.
Die ursprünglich erwünschten Funktionen, die zum Bau vieler Grenzzäune und Mauern geführt haben, werden nur selten erfüllt. Dass sich Urlaubstourismus zunehmend immer mehr hinter den Mauern diverser Ressorts abspielt, ist offensichtlich. Die offene Frage ist nun, welche der „neuen Mauern und Zäune“ letztlich umfunktioniert als Touristenattraktion übrig bleiben werden.

www.danesch.at

Emanuel Danesch ist Künstler und Filmemacher. Seine Projekte, Dokumentarfilme und Texte beschäftigen sich mit Themen kultureller, ökonomischer und politischer Transformationen.

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