Nie wurden im nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua mehr Frauen ermordet als 2010. Die tief verwurzelte Macho-Kultur und das völlige Versagen der Justiz sind zwei Elemente des skandalösen Phänomens.
Eine Spurensuche von Sebastian Grundberger.
Am 16. Dezember wurde die Menschenrechtsaktivistin Marisela Escobedo in Chihuahua Stadt ermordet, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates. Der Mord geschah nicht in einer dunklen Ecke, sondern in aller Öffentlichkeit – auf einer belebten Straße gegenüber dem Regierungspalast. Die Überwachungskameras des Gebäudes hielten gegen 20 Uhr Ortszeit den Mord fest. Per YouTube verbreiteten sich die grausamen Bilder später bis weit über die Landesgrenzen hinaus. Von weitem ist Marisela Escobedo auf ihnen zu erkennen, wie sie ein Protestplakat in die Höhe reckt. Plötzlich nähert sich ihr ein Mann in heller Hose und dunklem Pullover. Escobedo versucht, über die Straße in Richtung Haupteingang des Regierungspalastes zu flüchten. Doch ihr wesentlich jüngerer Verfolger ist schneller. Auf dem gegenüberliegenden Gehsteig hat er sie eingeholt. Er zieht eine Waffe und schießt aus kürzester Distanz auf sie. Während Marisela Escobedo tödlich verletzt liegen bleibt, springt ihr Mörder in ein anhaltendes weißes Auto und entkommt.
Marisela Escobedo war nicht zufällg zur Menschenrechtsaktivistin geworden. Der grausame Mord an ihrer 16-jährigen Tochter Rubi hatte ihrem Leben eine völlig neue Richtung gegeben. Rubi war im August 2008 von ihrem ehemaligen Partner Sergio Rafael Barraza ermordet worden. Wie Barraza gegenüber der Polizei erklärte, hatte er sie getötet, weil er sie mit einem anderen Mann erwischt hatte. Gleichzeitig wies er der Polizei den Weg zur Leiche Rubis. Schwer verbrannt fand man sie in einem Müllcontainer der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez.
Der anschließende Prozess gegen den Hauptverdächtigen brachte im April 2010 ein skandalöses Urteil: Freispruch. Das Gericht wollte die wiederholten Geständnisse Barrazas gegenüber der Polizei nicht akzeptieren, da bei ihnen kein Verteidiger anwesend gewesen sei. Barraza wurde auf der Stelle freigelassen und ist seitdem untergetaucht. Der Mörder von Rubi ist bis heute ein freier Mann, obwohl ein Gericht nach öffentlichem Aufruhr das Urteil in zweiter Instanz für ungültig erklärte und ihn zu 50 Jahren Haft verurteilte.
Marisela Escobedo reiste seitdem durch das Land, um gegen dieses Unrecht zu protestieren. Dazu schloss sie sich der Organisation „Justicia para nuestras hijas“ (Gerechtigkeit für unsere Töchter) an. In ihr haben sich Angehörige von Opfern zusammengeschlossen. Auf ihrer Website zählt die Organisation jede einzelne ermordete Frau in Chihuahua auf und veröffentlicht Fotos von ihnen.
Nach Angaben von „Justicia para nuestras hijas“ war Marisela Escobedo eine von 446 allein im Jahr 2010 ermordeten Frauen im nur 3,4 Millionen EinwohnerInnen zählenden Bundesstaat Chihuahua. Ein Frauenmord alle 20 Stunden: Seit Beginn der Aufzeichnungen war 2010 damit das Jahr mit den bei weitem meisten Morden an Frauen überhaupt. 2009 hatte die Organisation „nur“ 194 Frauenmorde registriert, 2008 war Rubi eines von 79 weiblichen Mordopfern (siehe Tabelle). Wie dramatisch hoch diese Zahlen sind, zeigt ein internationaler Vergleich. Der Internetseite „feminicidio.net“ zufolge wurden in ganz Peru im selben Jahr 117 Frauen getötet – bei einer fast zehnmal so großen Bevölkerung.
Schauplatz von rund drei Viertel der tödlichen Delikte im Bundesstaat war – wie im Falle Rubis – die 1,5 Millionen EinwohnerInnen zählende Grenzstadt Ciudad Juárez. Mit insgesamt 3.100 Morden 2010 kann sich diese Stadt auch allgemein mit dem Titel der gefährlichsten Stadt der Welt „schmücken“.
Die Mordfälle von Marisela Escobedo und Tochter Rubi sind in vielerlei Hinsicht typisch für die Frauenmorde in Nordmexiko. Sie enthalten viele der Zutaten eines tödlichen Cocktails. Die tief verwurzelte Macho-Kultur, nach der Rubis Mörder den Anblick seiner ehemaligen Freundin mit einem anderem Mann nicht aushalten konnte, das völlige Versagen der Justiz, die einen Mörder trotz erdrückender Beweise erst freisprach, dann verurteilte und seitdem nicht in der Lage ist, ihn dingfest zu machen. Und schließlich der Mord an Marisela Escobedo als „Strafe“ dafür, dass sie auf das Martyrium ihrer Tochter aufmerksam machte.
Felipe de Jesús Ruiz von der von einem katholischen Geistlichen 1988 gegründeten „Kommission für Solidarität und Verteidigung der Menschenrechte“ (Cosyddhac) vermag nicht zu erklären, warum die Situation in Chihuahua ausgerechnet 2010 so eskaliert ist. Der Mittfünfziger klingt etwas verzweifelt, wenn er von den Gründen erzählt, aus denen Frauen ermordet werden. Wie viele andere Menschenrechtler spricht er von „Feminiziden“. Darunter versteht er Morde, bei denen der „blanke Hass auf das weibliche Geschlecht und die Verachtung von Frauen“ ein wichtiges Motiv darstellen. Im Gegensatz zu vielen ermordeten Männern hätten Frauen nur selten direkt mit dem organisierten Verbrechen oder dem Drogenhandel zu tun. Meist würden sie wie Rubi Opfer von häuslicher Gewalt, wagten es wie Marisela Escobedo, öffentlich gegen Ungerechtigkeit zu protestieren, oder aber sie würden als Lustobjekte auf dubiosen Feiern von Drogenkartellen missbraucht.
Gerade bei letzteren Fällen gebe es ein gewisses Muster. Die Opfer, so Ruiz, seien meist relativ unabhängige Frauen, die in den „Maquiladora“-Fabriken nahe der US-Grenze arbeiten. Viele Opfer stammten aus den südlichen Provinzen und seien – weit von ihren Familien entfernt – auf sich allein gestellt. Oft seien sie alleinerziehende Mütter. Diese Mischung aus Selbstbestimmtheit und Entwurzelung mache sie für die Kriminellen zur leichten Beute. Aufgrund ihrer meist eher liberalen Einstellung ließen sie sich leicht auf Partys einladen, die häufig mit sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen endeten. Da in weiten Teilen Chihuahuas der Drogenhandel und das organisierte Verbrechen statt des Staates regierten, sei es für die Täter oft weniger gefährlich, die Frauen zu ermorden, als sie freizulassen. Ruiz berichtet von grausamen Methoden, mit denen die Mörder Spuren verwischten. So sei es gängige Praxis, Frauenleichen in Säure aufzulösen.
An Öffentlichkeit in der nationalen und internationalen Presse hat es den ermordeten Frauen von Chihuahua in den vergangenen Jahren nicht gemangelt. Genausowenig an großspurig angekündigten staatlichen Initiativen zum Ende der Straflosigkeit und zur Erziehung der Bevölkerung zu einem respektvollen Umgang der Geschlechter miteinander. Die Frage bleibt, warum all dem zum Trotz die Situation der Frauen in Chihuahua immer schlimmer wird.
Felipe de Jesús Ruiz schiebt die Hauptschuld auf die staatlichen Institutionen. Drogenhandel und organisiertes Verbrechen hätten die Regierung des Bundesstaates, die Armee und vor allem die lokale Polizei infiltriert. So sei nicht immer klar zu erkennen, wer eigentlich der Aufklärer und wer der Verbrecher sei.
Offenbar will in der Justiz und auch in der Politik niemand auf dem gut bezahlten Ast sägen, auf dem er sitzt. Die Mörder haben meist Verbindungen zum organisierten Verbrechen und zu Drogenkartellen. Da wundert es nur wenig, dass Fortschritte bei der Aufklärung der „feminicidios“ auf der Strecke bleiben. Diese sind mehr als nur ein blutiger Fleck auf der Regierungsweste. Die staatlichen Behörden müssen sich eine Mitschuld an der eklatanten Verletzung des Rechtes auf Leben der Frauen ankreiden lassen. Bisher fehlt es ihnen an Mitteln – oft aber auch am politischem Willen –, ihrer Schutzpflicht gegenüber den Frauen nachzukommen.
Sowohl der Mörder von Marisela Escobedo als auch der Mörder ihrer Tochter befinden sich weiter auf freiem Fuß. Immerhin aber ist die Gesellschaft aufgewacht. Tausende Menschen gingen mehrfach auf die Straße und forderten ein Ende des Martyriums der Frauen. Die Regionalregierung von Chihuahua reagierte und suspendierte die drei Richter, die Rubis Mörder freigesprochen hatten. Das Morden auf der Straße geht jedoch weiter. Laut „Justicia para nuestras hijas“ sind im Jänner 2011 erneut 32 Frauen Opfer von „feminicidios“ geworden – sieben mehr als im Jänner des „Rekordjahres“ 2010.
Mehr Infos auf www.feminicidio.net und www.cosyddhac.com
Sebastian Grundberger studierte Politikwissenschaft und Geschichte Lateinamerikas in Eichstätt und Valparaíso, Chile. Im November und Dezember bereiste er Mexiko als Mitglied einer Delegation der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM).
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