Die Globalisierung macht heute auch nicht vor dem Friedhof Halt. Seit etwa zehn Jahren überschwemmen Billigsteine aus Asien den europäischen Markt. Die Arbeitsbedingungen in den Exportsteinbrüchen sind allerdings katastrophal. Die Bilder, die der Kinderrechtsexperte Benjamin Pütter zusammen mit dem Fernsehsender Arte vor drei Jahren aus Indien mitbrachte, schreckten damals die gesamte Steinbranche auf. Da sieht man Halbwüchsige, die in kleinen Gruppen an Presslufthämmern stehen, die Gesichter weiß vom Steinstaub. Die schwere Maschine lässt ihre Körper vibrieren. Ohrenbetäubender Lärm schallt von den Steinwänden zurück. Bei 45 Grad im Schatten bohren sie hier Löcher in den Granitstollen. Die Buben sind zwischen zwölf und fünfzehn Jahre alt und arbeiten acht Stunden am Tag in Gummilatschen, ohne Mundschutz oder Ohrschoner. „Wir wollten eigentlich nachweisen, dass es in den Exportsteinbrüchen keine Kinderarbeit gibt“, erläutert Pütter seine Aktion. „Stattdessen fanden wir in jedem besuchten Steinbruch Kinder ab etwa zwölf Jahren an den 40 Kilo schweren Presslufthämmern und Schlagbohrern.“
Die Bilder konnte Pütter nur machen, weil er sich als Steinhändler ausgab. Die Steinbrüche in Südindien liegen nämlich abgelegen und werden gegen neugierige Zaungäste gut bewacht: Kinderarbeit ist in Indien illegal. Es stehen sogar Gefängnisstrafen bis zu drei Monaten darauf, in der Praxis schert sich aber niemand um solche Gesetze. „Kinder, die schutzlos dem Steinstaub ausgesetzt sind und jeden Tag dermaßen hart arbeiten“, sagt Benjamin Pütter, „haben eine Lebenserwartung von 35 Jahren. Der Steinstaub ruiniert ihre Lungen.“ Manchen fehlt der Daumen oder ein Finger, denn die Sprengarbeiten sind gefährlich.
Lange Zeit wusste niemand, was sich in den Steinbrüchen der Firma „Enterprising Enterprises“ abspielt. Der indische Konzern gehört zu den zehn größten Steinproduzenten der Welt, in Indien ist er die Nummer Eins beim Abbau von Steinen für den Export in alle Welt. Pütter: „Bis zu zwei Drittel der Arbeiter waren Kinder unter 18 Jahren. Und zwar alles Unberührbare, die in Schuldknechtschaft leben. Ihr Wochenlohn beträgt etwa 300 Rupien, das entspricht 5,5 Euro“. Organisationen wie die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), Anti-Slavery International oder das deutsche Institut für Ökonomie und Ökumene Südwind schätzen die Zahl der minderjährigen ArbeiterInnen in den Steinbrüchen auf etwa 150.000 in ganz Indien.
Viele von ihnen leben in Schuldknechtschaft, einer modernen Form der Sklaverei. Eltern müssen sich zum Beispiel wegen eines Krankenhausaufenthalts verschulden. Wegen der Wucherzinssätze können sie das Geld zu Lebzeiten nicht zurückzahlen und sind gezwungen, die Arbeitskraft ihrer Kinder an die Steinbruchbesitzer zu verleihen. Die Kinder leben weit entfernt von ihren Familien in Strohhütten direkt auf dem Gelände der Steinbrüche. Gelegentlich dürfen sie nach Hause fahren. Ihr Leben ist der Steinbruch, weil sie nicht in die Schule gehen, fehlt jede Perspektive, um aus dem Kreislauf von Armut und Unwissenheit heraus zu kommen.
Schätzungsweise jeder vierte Grabstein, der in Österreich neu aufgestellt wird, stammt aus Indien. In Deutschland und Großbritannien sollen es sogar schon bis zu 80 Prozent aller Grabsteine sein. Granit aus Indien ist Big Business. Nach Informationen von Spiegel online liefert Indien jedes Jahr über 110.000 Tonnen Steine, Erden und Waren nach Deutschland, vor allem Pflaster- und Grabsteine.
Die Importware aus Asien hat den heimischen Stein fast vollständig verdrängt, weil sie trotz des langen Transportweges von Indien nach Österreich konkurrenzlos billig ist. Wenn der Granit aus den Steinbrüchen gesprengt ist, wird er in Blöcken in die Steinwerke bei Chennai (Madras) transportiert. Dort werden sie zurechtgesägt und poliert. In Österreich wird den Fertigsteinen nur noch die Inschrift des Verstorbenen eingraviert. „Billigsteine aus Fernost bewirken einen Strukturwandel in der gesamten Branche“, konstatiert Rudolf Wunsch, Bundesinnungsmeister der österreichischen Steinmetze. „Heimische Natursteinwerke geraten immer mehr unter Druck oder müssen Insolvenz anmelden. Großhändler mischen entscheidend mit. Die Struktur des produzierenden Gewerbes verändert sich.“ Denn inzwischen stammen nicht nur Grabsteine aus Übersee. Auch Natursteine für Gärten, Edelfassaden, Pflaster oder Fliesen kommen mittlerweile aus Indien oder dem noch billigeren China. Aber Benjamin Pütter hat die Branche aufgeschreckt. Gerade mittelständische Betriebe sind nicht mehr bereit, die Kindersklavenarbeit in den indischen Steinbrüchen still schweigend hin zu nehmen. Viele Kommunen sind aktiv geworden, so verlangt die Stadt München seit neuestem von ihren Steinmetzen einen Nachweis, dass die Steine ohne Kinderarbeit hergestellt wurden.
„Die Steinbranche steht heute unter enormem Druck. Es ist unsere einzige Chance, qualitativ hochwertig zu arbeiten und guten Service anzubieten“, betont Reiner Krug vom deutschen Natursteinverband. „Wir wollen ‚saubere‘ Grabsteine ohne Kinderarbeit.“ Pütter, die deutsche Hilfsorganisation Misereor und eine Gruppe Freiburger Steinmetze haben jetzt ein Gütesiegel initiiert, an dem der Kunde erkennt, dass der Grabstein „fair gehandelt“ und frei von Kinderarbeit ist. Vorbild für „Xertifix“, so der Name des neuen Siegels, ist das Siegel „Rugmark“ für Teppiche, die ohne Kinderarbeit hergestellt wurden. Ein Verein von Hilfsorganisationen, dem Handel und der Gewerkschaft baut derzeit ein Netz von unabhängigen Kontrollen in den Steinbrüchen Südindiens auf.
Den Kindern ist damit allein noch nicht geholfen. Das allererste Ziel muss sein, ihnen einen Weg aus der Schuldknechtfalle zu ebnen. Benjamin Pütter: „Wir wollen die Kinder da raus holen.“ Misereor hat daher zusammen mit der indischen Nichtregierungsorganisation QWARIDS, der Vereinigung indischer SteinbrucharbeiterInnen, ein neues Projekt für die Kinder in den Exportsteinbrüchen begonnen. Die illegal erworbenen Schuldscheine sollen vor Gericht für null und nichtig erklärt werden, um die Menschen von der schweren Zinslast zu befreien. Anschließend sollen die Kinder wieder bei ihren Familien leben, in die Schule gehen und einen Beruf mit Zukunft erlernen können.
Einige indische Händler haben sich unter dem Druck aus Deutschland bereit erklärt, Kontrolleure in die Steinbrüche zu lassen. Die Firma Enterprising Enterprises ist nicht darunter. Anfang 2007 sind die ersten zertifizierten Steine aus Indien in Deutschland angekommen. Zu den Händlern, die gleich mit eingestiegen sind, gehört der Steingroßhändler Bawinkel aus Norddeutschland mit einem Marktanteil von zehn Prozent. „Wir wollen unsere Lieferanten kontrollieren“, sagt Geschäftsführer Ludger Rembeck. „Seit hunderten Jahren sind Grabsteine sorgfältig gestaltet worden, jetzt sollen wir billige Fertigsteine auf unsere Gräber stellen. Das kann es nicht sein. Das Einzige, was nützt, ist der Druck der Verbraucher, der keine Billigware mehr will.“