Götter und Gewalt

Von Martin Jäggle · · 2002/02

Sind Religionen eine Quelle der Gewalt oder ist Gewalt ein Missbrauch der Religionen? Der Ruf, in dem Religionen stehen, ist auch dem Zeitgeist unterworfen.

In der Bergpredigt, der Magna Charta des Christentums, heißt es: „Selig die Sanften!“ und trotzdem ist die Geschichte des Christentums so durch religiöse Gewalt entstellt, dass ein Karl-Heinz Deschner mit seiner „Kriminalgeschichte des Christentums“ in den bisher sechs erschienenen Bänden nur die ersten zwölf Jahrhunderte bearbeiten konnte. Dabei geht es nicht nur um Gewalt gegen Leib und Leben, sondern auch um Zwangstaufen, um Gewalt gegen Freiheit und Menschenwürde. Diese Gewaltgeschichte steht in besonderem Widerspruch zur jesuanischen Forderung nach Gewaltfreiheit, ja Feindesliebe und zum christlichen Bekenntnis von einem Gott, der ein Gott der Menschen sein will, „nicht der Toten, sondern der Lebenden“, ein Gott, der bereits nach der jüdischen Tradition „einen Gräuel vor Menschenopfern hat“.
„Aber, wie ist es möglich, dass so viele Menschen Gott um Frieden bitten und ihn selbst nicht machen, dass sie Gerechtigkeit fordern und selbst nicht teilen, dass sie von Liebe reden und die Fremden unter ihnen ausschließen?“, fragt ein katholisches Religionsbuch der 3. Klasse Volksschule und merkt dann kritisch an: „Die Frommen wollen ganz nach dem Willen Gottes leben. Doch manchmal können sie selbstgerecht, hart und gewalttätig werden in ihrem Wunsch, vollkommen zu sein.“

Ist Gewalt nun eine Art Unfall im religiösen Betrieb oder Folge menschlicher Schwäche? Angesichts der geschichtlichen Realität drängt sich für viele die Frage auf, ob ein innerer Zusammenhang besteht zwischen Religion ihrem Wesen nach und religiöser Gewalt.
Für den französischen Existenzialisten M. Merleau-Ponty – und nicht nur für ihn – gehört Gewalt zum Wesen jeglicher Religion; andere wollen ein solches Urteil auf bestimmte Religionen beschränkt wissen.
Wenn der deutsche Philosoph Udo Marquard behauptet, dass sich absoluter Gehorsam aus Monomythen speise und nur Polymythen eine plurale Freiheit garantieren, so wäre erst das Ende des Monotheismus der Beginn wahrer Demokratie und könnte die Gefährdung menschlichen Zusammenlebens durch Gewalt reduzieren.
Die These von dem besonders monotheistischen Religionen innewohnenden Gewaltpotential versuchte der norwegische Friedensforscher Johan Galtung schon Mitte der siebziger Jahre bei einer entwicklungspolitischen Tagung in Mattersburg zu untermauern.
Da die Gleichsetzung des so genannten Alten Testaments mit Gewalt im Westen kulturell fest verankert ist, wird „Aug um Aug, Zahn um Zahn!“ als Aufforderung zur Gewalt verstanden. Dass diese Regel gegen die Praxis der vielfachen Vergeltung gerade der Begrenzung der Vergeltung diente, ist kaum nachvollziehbar. Als Aufforderung zum Genozid und Ökozid wird die in der Bibel nachzulesende Verpflichtung, in einem eroberten Land alles zu zerstören und keine Beute zu machen, verstanden. Dass mit dieser Aufforderung jeder Beutekrieg absurd gemacht wird, ist nur aufmerksamen LeserInnen erkennbar.

Doch der Ruf, in dem einzelne Religionen stehen, kann sich mit dem Zeitgeist ändern. Jedenfalls ist das Bild von den grundsätzlich gewaltfreien indianischen Religionen nur unter Verdrängung etwa der Menschenopfer auf den Maya-Stufentempeln aufrechterhaltbar. Oder die nostalgischen Vorstellungen von einer guten alten, gewaltfreien Zeit und Religion werden durch die ersten Menschenfunde zerstört. Diese weisen laut Hermann Müller-Karpe, einem deutschen Experten für vorgeschichtliche Grabungen, auf die „gesicherte Tatsache von Ritualtötungen“ hin, und die Grausamkeit der Menschenopfer ist auf Wandmalereien dokumentiert und vielfach bezeugt.
Fundamentalisten vermögen auch heute alle Gewalt freizusetzen, die in einer Religion angesiedelt ist. So verweist der Hindu Sudhir Kakar auf die buddhistische Gewalt in Sri Lanka und auf die hinduistische Gewalt in Indien.
Bei der religiösen Rechtfertigung eines Konfliktes wird eher zu historischen Anspielungen aus heiliger als aus profaner Geschichte gegriffen. Im Golfkrieg 1991 wurde dies besonders paradox anschaulich, als Saddam Hussein als Führer eines säkularen Staates und zugleich Führer der sich strikt als säkular definierenden Baath-Partei zum „Heiligen Krieg“ aufrief. Ihre Quelle haben diese Metaphern und Analogien in heiligen Legenden. Sie rühren an fundamentale Werte und setzen nach Sudhir Kakar „einige unserer heftigsten Leidenschaften frei“, weil Religion in den Augen des indischen Psychoanalytikers „einige unserer edelsten Empfindungen und Bestrebungen auf sich vereinigt. Der immer währende Menschheitswunsch nach Befreiung von Gewalt wird bei allen in himmlischen Bildern ausgemalt. Dem gegenüber steht aber die Realität der Gewalt, religiöser Gewalt, Gewalt, die im Namen der Religion ausgeübt wird, und Gewalt, die mit Religion vermischt ist.“

Die Tier- und Menschenopfer, die grausame Bestrafung der Sünder, die Häretiker- und Hexenverbrennungen, Selbstkasteiungen, also Gewalt gegenüber sich selbst, sind nicht nur erschütternde Erscheinungen der Menschheitsgeschichte, sondern dienen auch als Anklagematerial besonders gegen Religion. Wenn Religion der bedeutendste Wert im Leben von Menschen ist, dann führt jeder Missbrauch zu den grausamsten Unmenschlichkeiten.
Der deutsche Theologe Georg Baudler erzählt die dramatische „Geschichte von Gewalt, Sexualität und Religion“ des Lebewesens Mensch, verfallen der Faszination der Tötungsmacht. Im Prozess der Siedlungs- und Staatengründung wird nach Ansicht des Theologen der „in Jagd und Krieg eingeübte, vom Tötungs-Imponieren geprägte Mann zum Vollstrecker“. Als solcher wendet er „bald seine ihm durch die Frau vermittelte Tötungspotenz bedrohend und einschüchternd gegen diese selbst“. Und hier sieht er auch den Anfang der Unterdrückung in patriachalen Herrschafts- und Lebensformen. Aus diesem gewaltverhafteten Dasein suche etwa der indische Mensch einen Weg nach innen: „in der immer stärkeren Verinnerlichung seiner Existenz sucht er jenen Punkt zu erreichen, der nicht mehr dinglich festzumachen ist und deshalb von keiner Gewalt mehr erreicht werden kann“, so Baudler.
Einflussreich, aber auch kritisiert, für die Sicht des Zusammenhangs von Religion und Gewalt wurde der Ansatz des französischen Anthropologen und Religionswissenschaftlers René Girard. Er versteht die Opfer in den verschiedenen Religionen als vorbeugende, rituelle Vorwegnahme der mimetischen Krise, eine Art Ableitungsmechanismus für die stets andrängende Aggressivität. Das Opfer dient als Sündenbock, die regelmäßig wiederholten Opferriten dienen der Sicherung des Friedens. Doch die Bändigung der Gewalt kommt nicht ohne Gewaltanwendung aus und beinhaltet eine sorgsam gehütete Täuschung, die auf keinen Fall aufgedeckt werden darf, sonst geht die Wirkung verloren. Das Opfer hat nicht mehr Schuld als die anderen, ja die Schuldzuschreibung ist eine Lüge, die ein Zwilling der Gewalt ist. Der Sündenbockmechanismus kann jedenfalls Gewalt nicht überwinden. Dies ist nach Girard erst in Jesus geschehen, der den Gewaltmechanismus aufgedeckt und die Gewalt auf sich genommen hat.

Jede Religion wird in einem gesellschaftlich-kulturellen Zusammenhang gelebt und vermittelt. „Es kann auch zur Folge haben, dass sich die Religion mit Gewaltaspekten der gegebenen Kultur verbindet und dann als Religion, in ihrer soziologischen Eigenschaft als Bestandteil der kulturellen Gesellschaft, selbst auch gewalttätig werden kann“, meint der niederländische Theologe Edward Schillebeeckx. Im Überlegenheitsgefühl, vielleicht noch verbunden mit einem pervertierten Erwählungsbewusstsein, sieht er das größte Hindernis für das Zusammenleben, die größte Bedrohung menschlicher Kultur.
Theoretisch ist die Frage vielleicht nicht beantwortbar, ob Religion eine Quelle der Gewalt oder Gewalt ein Missbrauch der Religion ist. Empirisch aber ist es möglich, der Frage nachzugehen, wie weit Religionen heute gewaltvermehrend oder gewaltvermindernd wirken und was sie dem behaupteten Missbrauch durch Gewalt entgegensetzen. Schließlich verstehen sich alle so genannten Weltreligionen als friedensstiftend, von schalom bis salaam, und barmherzig.

Der Autor ist Theologe und lebt in Wien.

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