Eine Grundfrage beschäftigte alle drei Weltsozialforen, die bisher stattgefunden haben: Kann Globalisierung reformiert werden? Oder muss Globalisierung, als unreformierbares Instrument des Neoliberalismus, vielmehr bekämpft werden? Während ATTAC darauf besteht, als „globalisierungskritisch“ bezeichnet zu werden und sich somit von den „GlobalisierungsgegnerInnen“ abgrenzt, predigen Persönlichkeiten wie Walden Bello in Porto Alegre die De-Gobalisierung. Diese beiden Optionen haben unterschiedliche Handlungskonsequenzen, und hier betrifft diese Frage auch die AkteurInnen der Entwicklungspolitik in Österreich.
Vom 5. bis 7. Dezember 2003 findet in Graz die Zweite Gesamtösterreichische Entwicklungstagung statt. Sie ist Höhepunkt eines Reflexionsvorganges, der seit Juni 2002 mit elf Workshops in sieben Bundesländern eine ganze Reihe zentraler Fragen der Entwicklungspolitik berührt hat. Die Tagung versteht sich als Freiraum zur gemeinsamen Reflexion und zur Vernetzung engagierter Personen und Institutionen. Wofür braucht es aber heute Reflexion? Aus unserer Sicht ist es notwendig, die Grundlagen für eine Repolitisierung der Entwicklungspolitik in Österreich zu schaffen. Dazu braucht es Klarheit über Ziele und Visionen, jenseits der oft wenig aussagekräftigen Slogans.
Ein kurzer Exkurs zu den Ereignissen rund um den gescheiterten WTO-Gipfel im mexikanischen Cancún soll deutlich machen, weshalb Reflexion entscheidend ist, auch wenn die Praxis gut zu laufen scheint. Die Konferenz ist gescheitert, dies ist Konsens. Als Begründung wird häufig der Widerstand der Länder des Südens angegeben.
Hier aber liegt ein Missverständnis vor: Es war nicht der Schutz der eigenen Kleinbauern und -bäuerinnen, der diese Länder dazu motivierte. Vielmehr haben sich einige große Länder zu hartnäckigen VertreterInnen des Freihandels gewandelt. Brasilien etwa vertrat konsequent die Interessen der agroindustriellen Oligarchie des Landes. Damit konnte das bisherige diskursive Spiel umgedreht werden: Bislang erschienen die Regierungen des „Nordens“ als Vertreter des Freihandels, die protektionistische Barrieren im Süden niederreißen wollten, während die VertreterInnen der NGOs sich als BeschützerInnen der kleinbäuerlichen Bevölkerung verstehen.
In Cancún aber wollte der „Süden“ nun den Freihandel, der „Norden“ aber Protektionismus. Nun sind aber etwa die großen brasilianischen LandbesitzerInnen eigentlich nicht jene Menschen, mit denen sich die entwicklungspolitischen Organisationen Österreichs unmittelbar solidarisieren wollen – auch wenn sie sich über das Scheitern von Cancún jetzt freuen. In Zukunft wird es wahrscheinlich zu mehr Kooperation der großen „Süd“-Länder kommen, Brasilien wird mit Indien und China zusammenarbeiten. China mit seiner Politik einer sozialistischen Marktwirtschaft, das unter Führung der hindunationalistischen BJP stehende Indien, Brasilien und Südafrika bilden eine neue Achse des Südens. Sie werden zu wichtigen Akteuren der Weltpolitik und bilden ein Gegengewicht gegen die Allmacht der USA und des Nordens allgemein. Dies ist an sich begrüßenswert. Jedoch ist auch klar, dass die von ihnen im eigenen Land verfolgten Entwicklungsmodelle keineswegs dem entsprechen, was sich österreichische entwicklungspolitische Organisationen von einer gerechten Welt erwarten. Wohl aber waren sie zu Recht die strategischen Partner der NGOs, die in Cancún die Pläne der USA und der EU zu Fall brachten.
Das zeigt also: Hier läuft alles ziemlich kompliziert. Aus Sicht der Moral allein können Allianzen, die vielleicht strategisch doch Sinn machen, nicht geschmiedet werden. Die schnelle moralische Empörung ist oft wenig hilfreich. Mit solchen Situationen umzugehen, die richtige Forderung zum richtigen Moment zu stellen, in weiterer Folge auch die richtigen Entwicklungsprogramme in den richtigen Regionen zu finanzieren, die richtige Bildungsarbeit dazu zu machen, all dies erfordert Reflexion und mehr Wissen, als derzeit vorhanden ist. Solange österreichische NGOs den Anspruch vertreten, mehr als nur Katastrophen- und Sozialhilfe zu leisten, vielmehr grundlegende Strukturen der Ungerechtigkeit verändern wollen, solange ist es nötig, sich immer wieder Orientierungswissen anzueignen und das eigene Handeln kritisch zu reflektieren.
Wir sind deshalb überzeugt, dass die Tagung heute zu den interessantesten Projekten in der entwicklungspolitischen „Szene“ zählt. Allerdings liegt noch ein weiter Weg und viel gemeinsame Anstrengung vor uns, um an die Stelle von Marktfundamentalismus und Fortschrittsgläubigkeit eine Weltsicht zu setzen, in deren Mittelpunkt das Streben nach Entwicklung steht, danach, dass möglichst alle Menschen über die Freiheit verfügen sollten, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten.
Seit Juni 2002 bietet der Mattersburger Kreis gemeinsam mit der AGEZ Reflexionsanlässe an, deren erster wichtiger Schritt es war, aus der „Szene“ herauszukommen. Es gelang, so etwas wie die österreichische Zivilgesellschaft in ihrer Breite anzusprechen. Beispielgebend war dafür unter anderem ein Workshop in der Fachhochschule für Sozialarbeit in Wien im vergangenen Februar. Damit wurden Milieus zusammengebracht, die für gewöhnlich getrennt voneinander bestehen, das soziale und das entwicklungspolitische. Beide aber träumen von einer gerechteren Welt, beide sehen ihre Anliegen durch liberale Politikmuster gefährdet.
Mit diesem Reflexionsprozess wurden – und mit der Tagung im Dezember werden – neue Räume durch Vernetzung geschaffen. Die Reflexion entwicklungspolitischer Theorie und Praxis reicht damit über die engen Räume der so genannten entwicklungspolitischen Szene oder des sozialen Milieus und den ihr zugeordneten Fragestellungen hinaus. Aus einer nach innen orientierten Szene könnte nun eine Bewegung werden, die zu einem Bestandteil der Zivilgesellschaft wird, die die großen nationalen und globalen Fragen diskutiert.
Für die Repolitisierung ist es wesentlich, Freiräume zur Reflexion anzubieten. Ein solcher Freiraum ist ein Ort, an dem Widersprüche zwischen Individuum und Struktur reflektiert werden. Es geht nicht darum, die neue große Alternative zum System anzubieten, sondern innerhalb des Systems das Spiel zu spielen, es aber anders zu spielen.
Die Workshops und das gemeinsame Nachdenken der Jahre 2002 und 2003 münden nun in die Entwicklungstagung. Sie soll der Höhepunkt gemeinsamen Denkens und Suchens werden, wie Globalisierung ent-wickelt werden kann. Dabei wird es einerseits darum gehen, das Verständnis über Globalisierung zu schärfen: Globalisierung ist kein Schicksal, Globalisierung wurde und wird gemacht. Drei profilierte HauptreferentInnen – Karin Fischer vom Mattersburger Kreis, Dieter Plehwe vom Wissenschaftszentrum Berlin und Margarita Posada von der Streikbewegung des Gesundheitssektors in El Salvador – werden im Plenum hierzu die nötigen Anstöße geben. Die Tagung ermöglicht, dass PraktikerInnen und WissenschafterInnen sowie Studierende und Profis miteinander diskutieren, Meinungen austauschen und gemeinsam gescheiter werden.
In 19 verschiedenen Foren findet ein intensiver Dialog zwischen Theorie und Praxis statt. Hierbei soll über praktische Erfahrungen abseits vom Alltagstrott nachgedacht werden. Der Freiraum, in Ruhe mit engagierten, kundigen und erfahrenen Menschen diskutieren zu können, soll das Umfeld liefern, um gemeinsam konkrete Utopien für eine andere Welt zu erarbeiten. Die Tage der Tagung dienen dazu, durch das gründliche Nachdenken über die übliche Praxis neue Wege ausfindig zu machen, um Globalisierung wirksam zu ent-wickeln.