George Bergeron trägt einen 21 Kilo schweren Rucksack aus Segeltuch, mit Bleigewichten beschwert und mit einem Vorhängeschloss an seinem Hals befestigt. In seinem Ohr steckt ein kleines Radiogerät, das er aufgrund gesetzlicher Vorschriften ständig zu tragen hat. Das Radio ist auf einen Regierungssender eingestellt, der etwa alle 20 Sekunden einen durchdringenden Ton ausstrahlt, um George und seinesgleichen davon abzuhalten, in ungebührlicher Weise von ihrem Denkvermögen Gebrauch zu machen. Denn George ist überdurchschnittlich intelligent, und in dieser düsteren Satire von Kurt Vonnegut schreibt man „das Jahr 2081, und alle waren endlich gleich“*.
„Sie waren nicht nur gleich vor Gott oder dem Gesetz“, schreibt Vonnegut. „Sie waren in jeder Hinsicht gleich. Niemand war schlauer als irgendjemand sonst. Niemand sah besser aus als irgendjemand sonst. Niemand war stärker oder schneller als irgendjemand sonst. All diese Gleichheit beruhte auf den Zusatzartikeln 211, 212 und 213 der Verfassung sowie auf der unermüdlichen Wachsamkeit der Agenten des United States Handicapper General.“ (in etwa „der Obersten Behinderungsbehörde der USA“, Anm.)
Vonneguts Geschichte, vor etwa 40 Jahren geschrieben, ist nach wie vor überzeugend, weil sie einen der beiden grundlegenden Einwände gegen das Ideal der Gleichheit und die damit verbundenen Ängste so anschaulich beschreibt. Dieser Einwand besagt, das Ziel des Ideals wäre, uns alle gleich zu machen – und dass dies nur gelingen könne, wenn man alle besonderen Qualitäten und Vorteile einer Person „herunternivelliere“. Der andere Einwand besagt, dass das gesellschaftliche Streben nach Gleichheit unvermeidlich die persönliche Freiheit verletzte.
Diese Einwände sind derart gewichtig, dass man leicht aus den Augen verliert, dass Gleichheit tatsächlich ein gegenteiliges Ziel verfolgt: nicht Gleichheit gesetzlich zu verordnen, sondern dem Unterschied eine Chance zu geben. Sie widerspricht ganz und gar nicht der Freiheit, sondern es geht dabei darum, uns von der Tyrannei einer übermächtigen Herrschaftselite zu befreien.
Zumindest fing es so an. Zwar befasste sich Aristoteles theoretisch mit der Gleichheitsidee, und Radikale wie die britischen Levellers („Gleichmacher“) versuchten sich Mitte des 17. Jahrhunderts an ihrer praktischen Umsetzung, doch zu einer breit unterstützten politischen Idee wurde Gleichheit im Westen erst im 18. Jahrhundert. Ob Jean-Jacques Rousseau, Thomas Paine, John Stuart Mill oder Mary Wollstonecraft, alle waren sie VertreterInnen eines aufblühenden egalitären Denkens, das die rights of man und im Fall von Wollstonecraft die rights of woman begründete. Grundlage war der Glaube, dass jede und jeder von uns mit gleichem Wert und gleichem Recht auf Würde und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geboren wird. Diese radikale Idee lieferte die geistige Energie für die Revolutionen in Frankreich und den USA und den moralischen Impetus für den Kampf gegen die Sklaverei, die Sufragettenbewegung und die schwarze Bürgerrechtsbewegung.
Seither hat das Ideal der Gleichheit Millionen dazu veranlasst, gegen undemokratische Regierungsformen, Monarchie und Despotismus zu protestieren. Aus der Saat der rights of man entstand die Menschenrechtsbewegung, die ihren monumentalen Ausdruck in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fand: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“
Mit der Gleichheit ging es allerdings nicht problemlos voran. Insbesondere im 20. Jahrhundert geriet die Idee in Misskredit, als das größte gesellschaftliche Experiment der Welt in Sachen Gleichheit – der Kommunismus – sich in Totalitarismus verwandelte und schließlich ökonomisch zusammenbrach. Wie können wir die Warnung in „Farm der Tiere“ vergessen, George Orwells Satire über den Kommunismus? „Alle Tiere sind gleich. Aber einige Tiere sind gleicher als andere.“
Werden Ideale in großem Maßstab ins Lächerliche gezogen, schadet ihnen das erheblich. Seit dem Ende des Sowjetsozialismus 1989 ist es schwierig geworden, Unterstützung für die grundlegende Forderung zu finden, dass alle Menschen gleichermaßen am Reichtum einer Nation teilhaben sollten. Sicher nicht findet man sie bei SozialdemokratInnen vom Schlag des „Dritten Wegs“, die eifrig dabei sind, die Idee von BürgerInnen mit unveräußerlichen Rechten durch die Idee von „KonsumentInnen“ zu ersetzen, die ihr Wahlrecht am Markt ausüben. Nicht umsonst meint der US-amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin, Gleichheit sei zu einer „bedrohten Art“ unter den politischen Idealen geworden.
Trotzdem glauben viele, dass wir heute viel gleicher sind als früher – und in mancher Hinsicht stimmt das auch. Die Stellung der Frauen im Westen hat sich verbessert, obwohl Frauen in keinem Land der Welt tatsächlich gleichberechtigt sind. Rassistische und sexistische Diskriminierung werden weniger toleriert und können strafrechtlich verfolgt werden. Vielfalt und ein Gemisch verschiedener Kulturen werden heute eher als Zeichen des Reichtums einer Gesellschaft gesehen.
Ökonomisch gesehen leben wir jedoch in einer Zeit historisch einmaliger Ungleichheit: Niemals war die Kluft zwischen Arm und Reich größer. Während der Westen und Asien reicher wurden, gibt es weltweit 54 Länder, vor allem in Afrika südlich der Sahara und in der ehemaligen Sowjetunion, wo das durchschnittliche Einkommen in den 1990er Jahren gesunken und die Zahl der Menschen, die mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen müssen, zugenommen hat. 21 Länder entwickelten sich zurück, gemessen am Maßstab einer „menschlichen Entwicklung“, die Einkommen, Lebenserwartung und Alphabetisierung einschließt. Heute verdienen 25 Millionen US-AmerikanerInnen beinahe ebenso viel wie die zwei Milliarden ärmsten Menschen der Welt. Das war keineswegs „schon immer so“: 1820 war das Pro-Kopf-Einkommen in Westeuropa dreimal so hoch wie in Afrika, in den 1990er Jahren 13-mal so hoch.
Die Ungleichheit nimmt auch innerhalb der Länder zu. Die Kluft zwischen Arm und Reich weitet sich in mehr als der Hälfte der Länder aus, über die es Daten gibt. Heute müssten US-amerikanische ArbeiterInnen im Schnitt 400 bis 500 Jahre lang arbeiten, um so viel zu verdienen wie der Chef ihres Unternehmens in einem Jahr. Zu den Gründen gehören Gier und die Netzwerke der privilegierten Elite. Es ist viel sagend, dass kürzlich in Nicaragua und Sambia, die zu den Ländern mit der höchsten Ungleichheit weltweit gehören, frühere Präsidenten wegen Korruption vor Gericht standen. Aber auch andere Faktoren verschärfen die Ungleichheit: etwa der weltweite Trend zur Privatisierung grundlegender Dienste wie Gesundheits- und Wasserversorgung, wodurch lebenswichtige Dienste für die Ärmsten unerschwinglich werden.
Ist Gleichheit die Lösung? Ja und nein. Wir sollten besser zugeben, dass Gleichheit als absolutes Prinzip unmöglich zu verwirklichen ist. Politische Ideale sind oft gut in der Theorie, aber schlecht in der Praxis. Mit der Gleichheit könnte es sich genau umgekehrt verhalten. Die Theorie funktioniert nicht, aber eine Umsetzung dieses Ideals in der politischen Praxis und die Schaffung entsprechender Institutionen kann zu gewaltigen Fortschritten im Sinne einer menschlichen Entwicklung führen. Auf Basis dieses Ideals kann das Leid der am schlechtesten Gestellten gelindert, das Vertrauen in und die Teilhabe an der Gesellschaft verstärkt und ein allgemeines öffentliches Schul- und Gesundheitswesen aufgebaut werden. Die Idee der Gleichheit fördert außerdem Selbstachtung und die Achtung vor der Würde des Menschen, und sie ist eine unabdingbare Voraussetzung, wenn die weltweite Armut verringert werden soll.
Für manche ist sie auch das Um und Auf der Demokratie. Würde man den Erfolg des Gleichheitsideals an der Zahl der Demokratien in der Welt messen, könnte man sich ziemlich ermutigt fühlen: 1900 existierte in keinem Land der Welt ein allgemeines Wahlrecht, doch 100 Jahre später waren die meisten Länder Demokratien mit Mehrparteiensystemen. Aber so einfach liegen die Dinge nicht: Die deutsche Sozialistin Rosa Luxemburg warnte vor dem „harten Kern der sozialen Ungleichheit und des Mangels an Freiheit, der sich unter der süßen Hülle der formellen Gleichheit und Freiheit verbirgt“. Das Schwierige ist, unter diese „süße Hülle“ zu kommen und den „harten Kern der Ungleichheit“ darin zu verändern.
Also wie schaffen wir mehr Gleichheit in einer Gesellschaft – oder verringern zumindest den Schaden, den Ungleichheit anrichtet? Die meisten Menschen haben nichts gegen die formelle Gleichheit, also das allgemeine Wahlrecht ab einem bestimmten Alter und die Gleichheit vor dem Gesetz. Viel schwieriger ist es mit der faktischen Gleichheit. Dazu müssten Ressourcen so verteilt werden, dass jeder und jede davon profitiert, ob es sich um Landbesitz, Industrien, mineralische Rohstoffe oder die Umwelt handelt. Ungleichheit zu verringern bedeutet fast immer eine Umverteilung des Reichtums von den Reichen zu den Armen. Innerhalb eines Landes geschieht das in der Regel über die Besteuerung von Einkommen, Kapital, Erbschaften und bestimmten Formen des Konsums. Auf weltweiter Ebene könnten ein Schuldenerlass für Entwicklungsländer und faire Handelsbeziehungen wirksame Mittel sein, die extreme Konzentration von Reichtum und Macht in den reichen Ländern zu verringern.
Aber was ist das Ziel der Umverteilung? Soll jeder und jede genau gleich viel haben? Wahrscheinlich nicht. Fairness könnte durchaus eine gewisse Ungleichheit erfordern; ein körperbehinderter Mensch könnte ein Auto eher brauchen als ein Mensch ohne solche Beeinträchtigungen. Vielleicht sollte „Gleichheit des Wohlstands“ das Ziel sein, also dass es allen gleich gut geht: Besonders wichtig wäre dafür gleicher Zugang zur Gesundheitsversorgung, zur Schulbildung und anderen Diensten.
Die meisten VertreterInnen des Egalitarismus stimmen darin überein, dass Menschen für jene Ungleichheit verantwortlich sind, die sich aus ihren eigenen Entscheidungen ergibt – etwa aus ihrer Spielleidenschaft –, und dass sie dafür keinen Ausgleich erhalten sollten. Wir können nicht erwarten, dass die Entscheidungen in unserem Leben zu den selben Ergebnissen führen, aber es sollte zumindest Chancengleichheit bestehen.
Grundsätzlich bedeutet Chancengleichheit, dass der Zugang von Menschen zu Beschäftigung oder zu Bildungsmöglichkeiten nur von ihrer Leistung abhängen sollte. Aber das lässt außer Acht, dass sie vielleicht bessere oder schlechtere Voraussetzungen hatten. Diesem Umstand kann man mit Förderungsmaßnahmen begegnen. Universitäten mit einem niedrigen Anteil von StudentInnen aus der ArbeiterInnenschaft können bewusst Kinder aus diesem Milieu ermutigen, sich zu bewerben. SchülerInnen aus armen Verhältnissen können auch mit schlechteren Noten als StudentInnen aus betuchteren Familien aufgenommen werden, die Privatunterricht genossen haben. Die am weitesten gehende Maßnahme im Sinne der Chancengleichheit besteht darin, bestimmte Ergebnisse anzustreben, etwa mit einer Quotenregelung, um zu gewährleisten, dass die Zusammensetzung der aufgenommenen StudentInnen nach Hautfarbe, Geschlecht, sozialer Schicht etc. den entsprechenden Anteilen in der Gesamtbevölkerung entspricht.
Solche Schritte könnten einem Grundsatz folgen, den Ronald Dworkin formuliert: „In einer Demokratie haben die Herrschenden nur insoweit ein Recht auf Herrschaft, als sie den von ihnen beherrschten Menschen ‚gleiches Interesse‘ entgegen bringen. Das ist es, was Regierungen legitimiert.“ Die meisten Regierungen der Welt werden diesem Anspruch heute nicht gerecht und könnten daher als illegitim bezeichnet werden.
Jedoch wird es zur Reparatur des Schadens, der durch soziale Ungleichheit angerichtet wird, mehr brauchen als bloß die Bereitstellung qualitätsvoller Basisdienste für alle. Der Soziologe Richard Sennett wuchs in Carbini Green auf, einem überwiegend schwarzen Arbeiterviertel in Chicago, das er in seinem letzten Buch „Respect“ beschreibt. Der Aspekt der Achtung wird zwar oft ignoriert, doch wird man ohne ihn nicht verstehen, wie sich Ungleichheit auf emotionaler Ebene auswirkt – und warum es formellen Strategien und der Sozialpolitik so oft nicht gelingt, den Schaden wettzumachen, der durch Vorurteile gegenüber bestimmten Rassen und Gesellschaftsschichten entsteht.
Die Politik von Regierungen kann viel zu mehr Gleichheit beitragen. Aber die Energie für die Veränderung, für die Befreiung von der despotisch-eintönigen Herrschaft der Ungleichheit, wird nicht von oben kommen. Sie wird von Menschen kommen, die sich an der Basis organisieren.
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*)Kurt Vonnegut, „Harrison Bergeron“, in
„Equality: Selected Readings“, Oxford University Press 1997, Hg.: Louis J. Pojman und Robert Westmoreland