Gewalt mit Geschichte

Von Hans Brandt · · 2000/05

Von Kriminalität gebeutelt gehen die BewohnerInnen Südafrikas mit brutalen „Känguru-Gerichten“ selbst gegen Verbrecher vor.

Nachbarn hatten Alarm geschlagen. Doch als die Polizei ankam, waren die Täter schon verschwunden. Für zwei der vier jungen Männer war es bereits zu spät. Mit Peitschen und Stöcken waren sie zu Tode geprügelt worden. Die anderen beiden waren dem Tod nahe. „Als die Beamten ankamen, war einer der beiden völlig nackt, der andere halbnackt“, berichtete Polizeisprecherin Marcia Havemann. „Einer wurde mit einem Stromkabel fast erwürgt, den anderen hatte man ausgepeitscht.“ Die Wände des Zimmers in Ivory Park, einem Slumviertel nördlich von Johannesburg, waren mit Blut bespritzt. In der Ecke lag ein Haufen blutdurchtränkter Kleider.

Der Vorfall Ende März war nichts Ungewöhnliches. „Känguru-Gericht“ nennt sich in Südafrika diese Form der Selbstjustiz, der diesesmal mutmassliche Diebe zum Opfer fielen. In den Townships, den armen Ghettos der Schwarzen, wütet das Verbrechen auch im demokratischen Südafrika fast ungehindert. Die Polizei gilt als korrupt und unzuverlässig. Da nehmen ungewählte „Bürgerkomitees“ nicht selten das Recht in die eigenen Hände – und bestrafen Bagatelltäter mit einer unheimlichen Brutälität.

Statistiken belegen, dass SüdafrikanerInnen unter einer enormen Kriminalitätslast leiden. Der Polizei wurden im vergangenen Jahr mehr als 55 Morde pro 100.000 EinwohnerInnen gemeldet – eine Mordrate, die zu den höchsten außerhalb von Kriegsgebieten gehört. Raubüberfälle, Diebstahl, schwere Körperverletzungen – in allen Kategorien liegt Südafrika an der Spitze. Das Land gehöre zu den fünf unsichersten der Welt, warnte im Januar das liberale „Institut für Rassenbeziehungen“ in Johannesburg. Das beeinträchtige die Wettbewerbsfähigkeit des Landes.

Wohl am schlimmsten ist die Zahl der Vergewaltigungen. Von 100.000 Frauen und Mädchen wurden offiziellen Angaben zufolge 1999 fast 120 vergewaltigt. Jedoch gibt es eine enorme Dunkelziffer. Die Täter kommen meist ungeschoren davon. Das zwölfjährige Mädchen, beispielsweise, das kürzlich in einem Slum bei Johannesburg brutal misshandelt wurde, wird schlicht zur Grossmutter aufs Land geschickt. Jeder weiß, wer der Täter ist. Doch ihm geschieht nichts. Das Mädchen andererseits verbringt immer wieder Wochen im Krankenhaus. Sein Unterleib ist zerstört, die Wunden wollen nicht heilen. Von den psychologischen Schäden spricht ohnehin niemand.

Kein Einzelfall. Jedes vierte Schulkind unter 16, meinen ExpertInnenen, wurde sexuell misshandelt. Lehrer, die sich an Schülerinnen und Schülern vergreifen, sind keine Seltenheit. Alle Kenner sind sich einig, dass die meisten derartigen Verbrechen nie zur Anzeige kommen. So schätzen Organisationen wie „Rape Crisis“, die bekannteste Beratungsgruppe für Vergewaltigungsopfer, dass alle 26 Sekunden eine Frau vergewaltigt wird.

Zwar sind es meist die Reichen – und das sind in Südafrika mehrheitlich Weisse -, die seit Anfang der neunziger Jahre besonders lautstark über die Unsicherheit im täglichen Leben klagen. Darauf reagiert Südafrikas Ex-Präsident Nelson Mandela mit bitterer Ironie: „Das Ende der Apartheid brachte auch den Verbrechern eine neue Freiheit – sie konnten von den Townships in die Vororte der Weissen vordringen.“ Tatsächlich wird die überwältigende Mehrheit der Verbrechen jedoch nach wie vor in den Armenvierteln der Schwarzen verübt.

Die offiziellen Statistiken der Polizei sind in den letzten Jahren verlässlicher geworden. Es trifft also mit grosser Wahrscheinlichkeit zu, dass sich zahlreiche Verbrechen 1999 „auf hohem Niveau stabilisiert“ haben, dass die Zahl der Vergewaltigungen, Körperverletzungen, Autodiebstähle also nicht weiter zugenommen hat. Dennoch verbergen die Zahlen eine fatale Schwäche der Ordnungshüter. Zehntausende Verbrechensopfer machen sich zwar die Mühe, ein Vergehen bei der Polizei zu meden. Jedoch führt nur ein geringer Bruchteil der Anzeigen zur Anklage, ein noch kleinerer Teil der Angeklagten wird dann tatsächlich verurteilt. Die Aussichten für einen Täter, geschnappt und hinter Gitter gebracht zu werden, sind verschwindend gering.

Da helfen auch keine Grossrazzien wie die „Operation Crackdown“, mit welcher der neue schwarze Polizeichef Jackie Selibi seit März versucht, die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. Im ganzen Land werden Hunderte Wohnungen in „Hotspots“, also von Kriminalität besonders schwer betroffenen Stadtteilen, durchsucht. Polizisten und Soldaten an Straßensperren überprüfen Tausende Fahrzeuge. Mehr als 1.900 Verhaftungen meldeten triumphierend die Zeitungen – und mussten dann eingestehen, dass nur ein paar dutzend der Festgenommenen wirkliche Verbrechen begangen haben sollen. Der Rest waren illegale AusländerInnen.

„Polizeiarbeit vor Ort ist schwach, korrupt oder existiert einfach nicht“, klagt der Experte Johnny Steinberg von der Johannesburger Witwatersrand Universität. Kein Wunder also, dass die Menschen in den Slums bei der Verbrechensbekämpfung selbst Hand anlegen.

„Das ist die afrikanische Art, mit einem Verbrecher umzugehen“, beschreibt John Magolego die Methoden seiner Anhänger. „Man legt ihn auf den Boden und bearbeitet seinen Hintern mit einer Peitsche, bis er sich gebessert hat.“ Magolego ist Chef der grössten organisierten „Bürgerwehr“ des Landes, „Mapogo a Matamaga“, das heisst in der Sotho-Sprache „In die Enge getrieben wird der Leopard zum Tiger“. Etwa 30.000 Mitglieder soll die Gruppe im Norden Südafrikas haben, darunter auch Tausende Weisse.

Mehrere Mapogo-Leute wurden des Mordes angeklagt, nachdem die „traditionelle“ Korrekturmethode den Tod der mutmasslichen Verbrecher zur Folge hatte. Um Geständnisse zu erpressen, haben Magolegos Gefolgsleute ihre Opfer sogar in Gewässer voller Krokodile geworfen. Aber das einfache Volk freut sich über die rabiaten Methoden. „Seit Mapogo gekommen ist, leben wir in Frieden“, sagt Martha Mabuthla, eine Mutter von sechs Kindern. Sogar Polizisten geben zu, dass die Zahl der Verbrechen zurückgegangen ist. „Doch wir können es nicht dulden, dass kriminelle Methoden angewandt werden, um die Kriminalität zu bekämpfen“, warnt ein Polizeisprecher. Das ist die offizielle Linie.

Nicht selten machen die Uniformierten beide Augen zu, wenn der Mob zum Knüppel greift – denn dadurch wird ihnen auch Arbeit abgenommen.

Der Trend zur Selbstjustiz und der Zulauf, den Organisationen wie Mapogo haben, macht sie zum attraktiven Partner vor allem für konservative Parteien. Immer wieder wird in Südafrika der Ruf nach der Wiedereinführung der Todesstrafe laut. Doch die Regierungspartei, der Afrikanische Nationalkongress (ANC), hat bewusst die Abschaffung der Todesstrafe als öffentliches Signal gegen Gewalt durchgesetzt. Denn Südafrikas Gesellschaft ist von grosser Gewaltbereitschaft gekennzeichnet.

„30 Jahre gewalttätiger Geschichte haben ihre Spuren hinterlassen“, meint Jackie Cock, Sozologieprofessorin in Johannesburg. „Die Ansicht, dass Gewalt eine legitime Form der Problembewältigung ist, ist weit verbreitet.“

Bürgerkriege in Nachbarländern und selbst der Kampf gegen die Apartheid, in dem die Befreiungskämpfer mit der Kalaschnikoff in der einen und dem Parteiprogramm in der anderen Hand glorifiziert wurden, haben dazu beigetragen, Schusswaffen gesellschaftlich akzeptabel zu machen. Statistiken belegen, dass Gewaltverbrechen durch Schusswaffen noch blutiger werden. Bei 70 Prozent aller Raubüberfälle und der Hälfte aller Morde kommt eine Pistole oder gar ein Sturmgewehr zum Einsatz. 1998 wurden 12.267 Menschen durch eine Kugel getötet – nur in Kolumbien, dem Land der Drogenfehden, wird mehr geschossen.

Nach wie vor strömen aus den Nachbarländern Mosambik und Angola, in denen jahrzehntelange Bürgerkriege eine Waffenflut verursachten, jährlich 30.000 Schusswaffen nach Südafrika. Zusätzlich werden der Polizei jedes Jahr 8.500 Waffen gestohlen – Morde an Polizisten, in denen es um die Dienstwaffe als Beute geht, sind nicht ungewöhnlich. Außerdem gehen von den vier Millionen legalen Waffen pro Jahr etwa 30.000 verloren oder werden geklaut.

Die Polizei selbst schiesst sehr schnell – und Bemühungen von Menschenrechtsgruppen, den Gesetzeshütern im Umgang mit Verdächtigen eine menschlichere Art beizubringen, werden von Polizeiminister Steve Tshwete höchst persönlich abgelehnt. „Wer es mit uns zu tun bekommt, muss mit dem Schlimmsten rechnen“, stachelt er seine Beamten an. Das zeigt, dass es für einen strukturellen Wandel im Kampf gegen die Kriminalität keine schnellen Rezepte gibt.

Die Polizei bleibt vom Erbe der Apartheid gezeichnet. Der Brauch, eher politisch unliebsame Bürger festzunehmen als gegen Mörder und Räuber vorzugehen, ist schwer zu überwinden. Die Aufgabe, aktiv gegen Täter zu ermitteln statt durch Folter ein Geständnis zu erpressen, überfordert viele Beamte. Dass ein Drittel aller Polizisten nicht einmal lesen und schreiben kann, sagt viel aus über die Voraussetzungen, die ein Polizist bisher zu erfüllen hatte. Diesen Rückstand durch Ausbildung zu beheben, wird Jahre dauern.

Noch schwieriger wird es sein, Wurzeln des Verbrechens wie Armut und Arbeitslosigkeit zu überwinden. In der Zwischenzeit werden die Menschen in Südafrika weiter unter Kriminalität im täglichen Leben leiden. Und immer wieder werden frustrierte Bürger das Gesetz in die eigene Hand nehmen.

Hans Brandt ist Afrika-Korrespondent der Österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ mit Sitz in Johannesburg.

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