Die Bollwerke der öffentlichen Gesundheitspflege sind bedroht, warnt ťNew InternationalistŤ-Redakteur Richard Swift: Wir brauchen eine neue Bewegung, die Gerechtigkeit und Umweltschutz auf einer gemeinsamen demokratischen Plattform verbindet.
Öffentliche Gesundheitspflege wäre ohne einige talentierte Menschen und ihr politisches Engagement keine Realität geworden. Da waren Feministinnen wie Margaret Sanger, die Informationsblätter zur Verhütung für Frauen herausgab und unermüdlich die Todesrate unter schwangeren Frauen anprangerte. Es gab Aufdecker wie den dänischen Fotografen und Schriftsteller Jacob Riis, der mit seinem außergewöhnlichen Werk „Wie die andere Hälfte lebt“ das Leben jener illustrierte, die nicht auf die Butterseite gefallen waren. Oder Upton Sinclair, der die schlechten Gesundheitsund Arbeitsbedingungen in der britischen Fleischverpackungsindustrie anprangerte. Und natürlich gab es Wissenschaftler wie Joseph Lister in Großbritannien, den Entdecker der Antiseptika, und Paul Ehrlich in Berlin, einen der Begründer der modernen Immunologie. Diese Pioniere gaben die Fackel an spätere AktivistInnen weiter, die Gesetze zur Reinhaltung von Wasser und Luft sowie über Sicherheitsinspektionen am Arbeitsplatz und in der Nahrungsmittelproduktion durchsetzten.
Aber unsere hart erkämpfte öffentliche Gesundheitspflege ist in Gefahr. Die Bollwerke der öffentlichen Gesundheitspflege – saubere Luft, reines Trinkwasser, gesunde Ernährung, Sicherheit im Verkehr, gute Abwassersysteme und die Arbeitsinspektorate – sind alle bedroht.
Im Süden wurde die öffentliche Gesundheitspflege, die durch eine Revolution in der primären Gesundheitsversorgung erreicht werden sollte, ein Opfer der Verschuldung und von Strukturanpassungsprogrammen. Afrika taumelt unter der Last einer Aids-Epidemie, die dabei ist, eine ganze Generation auszulöschen, während Malaria und Tuberkulose sowie gegen Antibiotika resistente Infektionskrankheiten einen grausamen Blutzoll fordern.
Selbst wo diese hart erkämpften Bastionen der Gesundheit noch bestehen, werden sie von den Betreibern der wirtschaftlichen Globalisierung mit ihrer Frohbotschaft von Deregulierung und Privatisierung gestürmt. Das Argument ist verdächtig einfach: Das Sicherheitsnetz der öffentlichen Gesundheitspflege sei zu bürokratisch und oft unnötig. Es stehe rationalen Investitionsentscheidungen im Weg. Wo möglich, sollten seine Aufgaben von der Wirtschaft selbst erfüllt werden. Etwa indem Industrien – selbst potentiell gefährliche wie Nahrungsmittelverarbeitung, Atomenergie oder Chemie – sich selbst kontrollieren. Oder indem die Behörden, die unser Wohlbefinden überwachen sollen, privatisiert werden.
Und Schritt für Schritt setzen sich die Globalisierer durch. In den Vereinigten Staaten sind die Ausgaben für die öffentliche Gesundheitspflege um 25 Prozent gesunken. In vielen Ländern wurden die Mittel für die Kontrolle der Einhaltung der Umweltvorschriften in zahlreichen Industrien zusammengestrichen.
In der ehemaligen Sowjetunion lässt sich der Zerfall der öffentlichen Einrichtungen für Gesundheitspflege und Umweltschutz an einem abrupten Sinken der Lebenserwartung von Männern wie Frauen ablesen. In so unterschiedlichen Ländern wie Bolivien und Großbritannien wurden zentrale öffentliche Dienste wie die Wasserversorgung privatisiert. An viel zu vielen Orten zerfallen die Grundfesten der öffentlichen Gesundheitspflege – durch Vernachlässigung oder absichtliche Zerstörung.
Die Auswirkungen dieser Veränderungen werden nur langsam sichtbar. Dass die öffentliche Gesundheitspflege funktioniert, merken wir daran, dass nichts passiert. Dass es schlecht um sie steht, lässt sich daher ganz gut indirekt erschließen: An der Unfähigkeit des Gesundheitswesens, dem Bedarf gerecht zu werden – Budgetüberschreitungen, Benutzergebühren, ein besessenes Streben nach Kostenkontrolle, Personalknappheit, Patienten, die tagelang auf Tragbahren in Krankenhausgängen liegen, lange Wartelisten für lebensrettende Eingriffe, kurz ein gewaltig überlastetes System.
Manchmal wird das Versagen der öffentlichen Gesundheitspflege offensichtlich, wie im Fall der verseuchten Nahrungsmittel in Belgien und Japan oder dem verschmutzten Wasser in der Kleinstadt Walkerton im kanadischen Ontario. Aber meistens können die öffentlichen Sicherheitsnetze weitgehend unbemerkt angeknabbert werden, normalerweise zur Finanzierung populärer Steuersenkungen, die letztlich den bereits Begüterten zugute kommen.
Natürlich war öffentliche Gesundheitspflege in vielen Ländern, insbesondere in Teilen Asiens und fast in ganz Afrika, nie mehr als eine ferne Vision. Offizielle Dokumente von UN-Organisationen und internationale Abkommen waren nie besonders durchschlagskräftig. Dem Süden wurden andere Prioritäten aufgezwungen: Rückzahlung der Schulden, Aufrechterhaltung der Nahrungsmittel- und Mineralexporte, die staatliche Obsession der nationalen Sicherheit, alles ist wichtiger als die Bereitstellung grundlegender Gesundheitsdienste.
Gesundheitsgefahren gibt es überall. Einige sind alt, wie die Pest oder besiegt geglaubte Krankheiten wie Tuberkulose, die klassische Armutskrankheit. Andere konnte man sich bis vor kurzem gar nicht vorstellen. Im vergangenen Oktober erging an die 120.000 Menschen im chilenischen Punta Arenas, am südlichsten Zipfel Lateinamerikas, eine sehr ungewöhnliche Gesundheitswarnung. Sie und auch die BewohnerInnen von Ushuaia in Argentinien wurden aufgefordert, mittags zwischen 11.00 und 15.00 Uhr in geschlossen Räumen zu bleiben – geschützt vor den sengenden Sonnenstrahlen, die durch ein immer größeres Loch in der Ozonschicht die Erde erreichen. Die Ozonschicht über dem Südpol ist durch verschiedenste Chemikalien – Fluorchlorkohlenwasserstoffe, Bromide, Stickoxide und Chlorverbindungen – so dünn geworden, dass schon nach sieben Minuten schwere Hautschäden auftreten können.
Diese Art von Gesundheitsgefahren konnten sich die Pioniere des frühen 20. Jahrhunderts wahrscheinlich kaum vorstellen. Ihre Perspektive war im wesentlichen eine lokale, geprägt von den Elendsvierteln in Berlin oder London, wo sie die lokalen Verantwortlichen dazu drängten, für ordentliche Abwassersysteme oder für Wohnverhältnisse zu sorgen, die sich nicht als Brutstätten von Tuberkulose oder Pocken erweisen würden.
Wenn sie überhaupt in einer größeren Dimension dachten, dann war es die Entwicklung von Massenimpfprogrammen zur Vorbeugung bestimmter Krankheiten oder die Sicherstellung der Ernährung, wie Louis Pasteur mit seinem Verfahren, Milch unbedenklich zu machen.
Doch die Gesundheitsprobleme haben sich gewandelt. Heute geht es zumindest in der industrialisierten Welt – aber zunehmend auch im Süden – eher um die Verhinderung chronischer denn infektiöser Erkrankungen. Die Haupttodesursachen werden bald Krebs, Herzerkrankungen, Herzinfarkte, Alzheimer oder Diabetes sein, sogar im vom Infektionskrankheiten geplagten Süden. Deren Ursachen können nicht mehr als lokal im engeren Sinn betrachtet werden, sondern sie sind zunehmend global, verknüpft mit einem toxischen Entwicklungsmodell, das von Unternehmen beherrscht wird, die gefährliche Produkte verkaufen und die direkt oder indirekt von unserer schlechten Gesundheit und stressgeplagten Arbeits- und Lebensweise profitieren.
Viele Menschen denken bei Krankheiten natürlich an die beeindruckenden Erfolge der modernen Medizin. Und die lassen sich nicht verleugnen – etwa der Sieg über die Pocken, über Polio oder die Lepra.
SpezialistInnen, die durch komplizierte Transplantationen und Laserchirurgie Leben retten, haben praktisch den Status von Superstars erreicht, und das Zukunftspotential genetischer Manipulation ist in aller Munde. Aber es gab auch Rückschläge, etwa dass Erreger von Krankheiten wie Tuberkulose und anderer Infektionskrankheiten gegen verbreitet benutzte und missbrauchte Antibiotika resistent wurden. Und bei der Entwicklung von „Heilmitteln“ für die wichtigsten chronischen Krankheiten kam die medizinische Forschung bisher nur quälend langsam voran.
Heute beginnt der im ganzen vergangenen Jahrhundert ziemlich konstante Anstieg der Lebenserwartung abzuflachen, insbesondere in Ländern mit einer hohen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit wie den USA oder Großbritannien. Dass die wichtigsten Fortschritte im Hinblick auf Gesundheit und Lebenserwartung gar nicht der modernen Medizin zu verdanken sind, wird von der Öffentlichkeit kaum verstanden. Sie sind der geduldigen Arbeit von AktivistInnen zu verdanken, die einen erfolgreichen Kampf zur Überwindung jener Bedingungen geführt haben, in denen infektiöse und andere Krankheiten gediehen: Elendsviertel, schlechte Luft, unsauberes Wasser, mangelhafte Abwassersysteme, Kinderarbeit, gefährliche Arbeitsplätze, Unwissen über sexuell übertragene Krankheiten. Korrekte Gesundheitsstatistiken und systematische Nahrungsmittelkontrollen trugen auch dazu bei. Die meisten dieser Fortschritte wurden erzielt, bevor Antibiotika überhaupt erfunden waren.
Aber mit der Verlagerung der Gesundheitsrisiken von Infektionen auf chronische Krankheiten musste sich auch der Schwerpunkt der öffentlichen Gesundheitspflege verlagern. Die Ursachen von Krebs und Herzerkrankungen sind diffuser und schwieriger zu erkennen. Beide Krankheitsbilder entwickeln sich im Verlauf eines ganzen Lebens. Beide sind teilweise eine Folge von sich anhäufenden Benachteiligungen – Jobs mit hoher Stressbelastung, die wenig Mitsprache, materielle Entschädigung oder Grund für Selbstwertgefühl bieten; das Risiko, als Angehörige einflussloser Gruppen oder an kaum überwachten Arbeitsplätzen karzinogenen Substanzen ausgesetzt zu sein; eine stärkere Tendenz zu selbstzerstörerischem Verhalten, wenn Menschen fühlen, dass ihrem Leben kein wirklicher Wert beigemessen wird.
Bei der WHO nimmt etwa die Sorge zu, dass klinische Depression epidemische Ausmaße annehmen könnte. Wer für öffentliche Gesundheitspflege eintritt, muss sich einigen kniffligen und kontroversiellen Fragen stellen, die zentrale Aspekte unserer Lebensweise unter den aktuellen kapitalistischen Bedingungen berühren.
Vielleicht erklärt das bis zu einem gewissen Grad, warum der Status der öffentlichen Gesundheitspflege sinkt und ihre Ressourcen zugunsten eher individualistischer Heilverfahren der High-Tech-Medizin gekürzt werden.
Aber dieses Gesundheitsmodell ist nicht erfolgreich. In Großbritannien rätseln ÄrztInnen über die starke Zunahme von Krebserkrankungen – um etwa 30 Prozent seit 1971. Statistiken in anderen Ländern bestätigen diesen Trend. Eine Erklärung sind verantwortungslose Praktiken von Unternehmen, die in oft bestürzenden Einzelfällen ans Tageslicht kommen. Traurige Tatsache ist jedoch, dass es für die meisten Unternehmen alltäglich ist, von gefährlichen Praktiken zu profitieren. Manche, wie etwa die Tabak-, Alkohol- und Fast-Food-Industrie oder Waffenproduzenten, verkaufen Produkte, die unmittelbar zum Tod führen können. Andere wie die Chemie-, Bergbauund Erdölindustrie haben indirekte Todesfälle durch schädliche Nebenprodukte zu verantworten. Die Autoindustrie oder die Agrochemie kann einen auf beide Arten ums Leben bringen. Um auf solche gefährliche Geschäftspraktiken aufmerksam zu machen, hat die WHO den mutigen und politisch heiklen Begriff der „Hazard Merchants“ (Gefahrenhändler) geprägt.
Wir brauchen eine Bewegung für öffentliche Gesundheitspflege im 21. Jahrhundert. Leider müssen wir uns auch zurückwenden und jene Errungenschaften sicherstellen, für die die Pioniere öffentlicher Gesundheitspflege gekämpft haben. Sauberes Wasser und ordentliche Abwassersysteme sind ein der Öffentlichkeit in Treuhand gegebenes Gut und nicht bloß eine weitere Geschäftsmöglichkeit. Die mit der Profitlogik einhergehenden Versuchungen, Kosten einzusparen, sind ein dürftiger Ersatz für wachsame öffentlich Bedienstete mit Ressourcen, die ihrer Aufgabe angemessen sind. Aber wir brauchen mehr als das, nämlich eine Bewegung für öffentliche Gesundheitspflege, die Gerechtigkeit und Umweltschutz auf einer gemeinsamen demokratischen Plattform verbindet. Eine ungleiche und undemokratische Gesellschaft wird beinahe mit Sicherheit auch eine ungesunde sein.
Copyright: „New Internationalist“
Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!
Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.
Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.
Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!
Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.