Gestohlene Geschichte

Von Christine Tragler · ·
Foto von zuhörenden Studenten
Stadtkino Filmverleih

Die Rückgabe geraubter Kulturgüter aus der Kolonialzeit wird in Mati Diops Dokumentarfilm „Dahomey“ kontrovers diskutiert – und in Österreich?

Wie kann man den Verlust von etwas messen, wenn man nie bemerkt hat, dass man es verloren hat? Studierende an der staatlichen Université d’Abomey-Calavi in Benin diskutieren über die Rückgabe von Raubkunst und darüber, welche Geschichten jungen Menschen übermittelt wurden. „Man hat mir gesagt, ich würde von Sklav:innen abstammen, aber meine Wurzeln sind die Amazonen!“, ruft eine Studentin im Hörsaal. „Als Kind war mir gar nicht bewusst, dass uns Werke gehören, die gestohlen worden sind“, sagt ein anderer Student.

Und ein junger Mann erzählt, dass er mit US-amerikanischen Serien wie „Tom und Jerry“ aufgewachsen sei. Einen Film über König Béhanzin, dem letzten unabhängigen Herrscher des einstigen Königreichs Dahomey, das auf dem Gebiet der heutigen Republik Benin in Westafrika liegt, habe er nie gesehen.

Die Debatte ist das Herzstück des Dokumentarfilms „Dahomey“. Die französisch-senegalesische Filmemacherin Mati Diop gibt darin der jungen afrikanischen Generation eine Stimme und begleitet den ersten großen Akt der Restitution Frankreichs an Benin mit der Kamera. Ab Mitte November wird der Gewinnerfilm der Berlinale, der auch bei der heurigen Viennale gezeigt wurde, in den österreichischen Kinos zu sehen sein. Apropos Österreich. Wir haben uns umgehört, was Künstler:innen, Forscher:innen und Journalist:innen zum Stand der Restitution in Österreich denken. Aber der Reihe nach.

Stadtkino Filmverleih

Sie kehren zurück. Während des zweiten Dahomey-Krieges von 1892 bis 1894 plündern französische Kolonialtruppen die Königspaläste der damaligen Hauptstadt Abomey. Nicht nur dort und nicht nur sie, sondern systematisch werden in dieser Zeit afrikanische Kulturgüter gestohlen und nach Europa verschifft. Immer wieder und spätestens seit der Unabhängigkeit in den 1960er Jahren mit Nachdruck fordern afrikanische Läder ihre Kunstwerke zurück. Jahrzehntelang werden diese Appelle mit fadenscheinigen Begründungen zurückgewiesen oder einfach ignoriert.

Bis Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2017 in einer Rede im überfüllten Amphitheater der Universität Joseph Ki-Zerbo in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, sagt: „Das afrikanische Erbe darf kein Gefangener europäischer Museen sein.“ Ein Jahr später plädieren die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und der senegalesische Soziologe Felwine Sarr in dem von Macron in Auftrag gegebenen Bericht unmissverständlich dafür, die „beispiellose Aneignung“ rückgängig zu machen.

Fast 130 Jahre nach ihrer Plünderung, im November 2021, treten 26 von 7.000 königlichen Artefakten vom Pariser Musée du Quai Branly aus ihre Heimreise nach Benin an. Es ist die erste große Rückgabe aus Europa an Afrika. „Historique!“, titelt die von der beninischen Regierung kontrollierte Tageszeitung La Nation am Tag der Ankunft.

Mit Pomp und Jubel werden die einstigen Symbole von Macht und Kultur ­– darunter die Statuen des Königs Ghézo und seiner Erben Glélé und Béhanzin, die mit den Köpfen eines Vogels, eines Löwen und eines Hais dargestellt sind, um ihre übernatürlichen Kräfte anzudeuten ­– in Empfang genommen und im sonst so gut abgeschirmten Gelände des Präsidentenpalasts in Cotonou ausgestellt (Das Südwind-Magazin berichtete dazu im Extrablatt Mai 2022).

Königreich Dahomey

Das im 17. Jahrhundert von König Houegbadja gegründete Königreich Dahomey war eine bedeutende Macht, die über 260 Jahre lang an der Küste der Bucht von Benin bestand – nicht zu verwechseln mit dem ehemaligen Königreich Be-nin im heutigen Nigeria, der Heimat der Benin-Bronzen (siehe Dossier zu Dekolonialisierung im Südwind-Magazin Mai-Juni 2024).

Wirtschaftlich profitierten die Könige von Dahomey vom Sklaven:innenhandel. Zum mächtigen Heer gehörten auch die bewaffneten Frauengruppen der Agojie, die sogenannten Amazonen von Dahomey. 1892 marschierten französische Truppen in der Hauptstadt Abomey ein und plünderten die Königspaläste. 1895 wurde es Teil des französischen Kolonialreiches.

Sprachlosigkeit einfangen. „Mein Name ist Nummer 26“, spricht eine verzerrte elektronische Stimme in der kaum über eine Stunde dauernden Doku „Dahomey“. Schon im Vorspann bringt Regisseurin Diop eine der Statuen zum Sprechen. Es ist die Skulptur von König Ghézo, eine Holzfigur mit Lendenschurz und geballter Faust. Diese redet nicht in der offiziellen Amtssprache der einstigen Kolonie, Französisch, sondern Fon, einer Lingua franca in Westafrika, die größtenteils in Nigeria und Benin gesprochen wird. Die Tonspur stammt aus der Feder des haitianischen Schriftstellers Makenzy Orcel. Das war der Regisseurin aus historischen und politischen Gründen wichtig, denn: „praktisch alle Haitianer:innen sind Nachkommen Schwarzer Sklav:innen, die größtenteils im frühen 18. Jahrhundert aus der Bucht von Benin und Westafrika, einschließlich Senegal, deportiert wurden“, sagt Diop. Die Stimme aus dem Off ist ein gestalterischer Kniff, die sich wie ein Geist der Vergangenheit durch den Film zieht – aus einer anderen Welt in die unsere.

„Mati Diop hat einen Weg gefunden, die Stimmlosigkeit einzufangen“, sagt Khadija von Zinnenburg Carroll gegenüber dem Südwind-Magazin. Die Historikerin und Künstlerin beschäftigt sich an der Central European University in Wien mit indigenem Wissen und dekolonialen Bewegungen. Die Objekte, so Zinnenburg Carroll, seien für viele Menschen in Benin mehr als materielle Artefakte. Sie werden als beseelte Subjekte betrachtet, als verwandte Wesen und Teil der spirituellen Welt. „Die afrikanische Perspektive auf die Rückgabe von Kulturgütern geht weit über das hinaus, was bisher in Europa diskutiert wird“, sagt die Künstlerin.

Für die junge Generation ist es ein symbolischer Akt der Selbstbestimmung in einer Geschichte, die lange von Kolonialherrschaft geprägt war. Doch bei aller Symbolik bleibt die Frage, was aus den Tausenden von Kunstwerken wird, die noch immer in den Depots europäischer Museen lagern, so Zinnenberg Carroll. Denn: Über 90 Prozent der historischen Kulturgüter afrikanischer Provenienz sollen sich in westlichen Museen befinden. Allein das Museum Quai Branly in Paris besitzt 70.000 Werke aus Afrika. In österreichischen Bundesmuseen sind es laut einer parlamentarischen Anfrage der Neos aus dem Jahr 2019 rund 46.500. In Österreich wird die Rückgabe dieser Artefakte weniger öffentlich, sondern hinter verschlossenen Türen diskutiert. Zinnenburg Carroll: „Bis heute warten wir auf ein neues Gesetz zur Erleichterung der Rückgabe, das längst hätte verabschiedet werden sollen.“

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Symbolische Geste. Mit zurückgeben allein, ist es nicht getan, findet Gracia Ndona. Stattdessen brauche es eine breitere Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit. Ndona ist freie Journalistin und Mitgründerin des Vereins Afrikanische Diaspora Österreich, kurz ADOE, der mit Freizeitaktivitäten und Veranstaltungen einen Safer Space von und für afrikanische und afrodiasporische Menschen schafft.

Viel zu wenig wird hierzulande über die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge der Restitution von kolonialem Kulturgut diskutiert, sagt sie. Der breiten Öffentlichkeit sei nicht bewusst, wie sehr Österreich in koloniale Strukturen eingebunden war und davon profitierte. „Warum sehen wir im ORF nicht eine Elefantenrunde mit den Spitzen der fünf Parlamentsparteien zum Thema Restitution in Österreich?“, fragt die Journalistin.

Sie ist überzeugt: Schlimmer noch als der gestohlene materielle Wert, ist es der eigenen Sprache, Kultur und Geschichte beraubt zu werden. „Die Geste der Rückgabe hat großen symbolischen Wert, aber sie ist nur relativ, angesichts der viel größeren Dinge, die mit der Kolonialherrschaft verloren gegangen sind“, sagt Ndona.

Für sie macht das der Film „Dahomey“ deutlich. Zum Beispiel im Kommentar einer Studentin, die darüber spricht, dass sie sich in Fon, ihrer Muttersprache, nicht genauso gut ausdrücken kann, wie in der französischen Sprache, die noch immer einzige offizielle Sprache Benins und damit die einzige zugelassene Unterrichtssprache in der Volksschule ist.

Doch was bedeutet Restitution, wenn man in Zukunft ins Museum gehen muss, um Zugang zur eigenen Kultur zu bekommen? „Reproduzieren wir hier nicht eine Form von Neokolonialismus, wenn wir Artefakte zurückgeben und sie dann in Museen stellen, obwohl der Museumsbesuch gar nicht Teil der kulturellen Praxis war?“

Film und Gespräch

Zum österreichweiten Kinostart gibt es einige Special Screenings:

Am 22. November um 20 Uhr lädt Südwind gemeinsam mit dem Stadtkino im Künstlerhaus in Wien zu einem Podiumsgespräch nach dem Screening ein. Angefragt sind Jonathan Fine (design. Direktor des KHM) sowie Khadija von Zinnenburg Carroll und Gracia Ndona. Moderation: Téclaire Ngo Tam.

Am 29. November um 20 Uhr wird es im Anschluss an den Film ein Online-Gespräch mit Mati Diop zeitgleich im Stadtkino im Künstlerhaus, Moviemento Linz, Kiz Royal Kino Graz und Leokino Innsbruck geben.

26 von 7.000. Die Empörung darüber, dass von 7.000 Gegenständen gerade mal 26 zurückgegeben werden, ist in der Diskussion auf dem Campus der Universität in Benin zu spüren. Ein Student wirft ein, die Rückgabe sei nur ein Versuch des französischen Präsidenten Macron, sein Image aufzupolieren, während der französische Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent schwinde. Für einen anderen kann die Rückgabe nicht oberste Priorität haben, solange sich die Menschen in Benin kaum ihr Essen leisten können.

„Kunstraub hat wesentlich dazu beigetragen, dass afrikanische Länder wirtschaftlich ausgebeutet und nachhaltig zurückgeworfen wurden“, sagt die Afrikawissenschaftlerin Lisa Tackie. Sie forscht an der Universität Wien unter anderem zu Dekolonisierung und afrikanischer Diaspora und arbeitet als Trainerin zu Antirassismus und Zivilcourage für Organisationen wie Disrupt oder Schwarze Frauen Community.

Für sie steht fest: „Aus afrikanischer Sicht bedeutet Kolonialismus Verlust und Gewalt. Aus europäischer Perspektive ist es eine Erfolgsgeschichte, die den Europäer:innen Wohlstand gebracht hat“.

Rassistische Machtsysteme wirken bis heute nach – nicht nur in Museen, auch in der Geschichtsschreibung oder der Kunstgeschichte. Tackie: „Während europäische Kunst akribisch in Epochen und Regionen eingeteilt wird, gilt Kunst aus Afrika unterschiedslos als ‚afrikanische‘ Kunst.“ Und um sie zu sehen, brauchen Afrikaner:innen in den allermeisten Fällen immer noch ein Flugticket und ein Visum. Rassismus wirkt fort: „Wer hat die Macht und das Geld, nach Europa zu kommen?“, fragt die Wissenschaftlerin und fährt fort: „Wir wissen in Europa so wenig über Afrika.“ Vieles an Wissensproduktion vor Ort ist durch die Kolonialisierung vernichtet worden, sagt sie.

Wie präsent kann das Abwesende in der eigenen Kultur sein? Und wie kann man erahnen, wie viel man verloren hat, wenn man keinen Kontakt mehr zu dem hat, was einem geraubt wurde? Mati Diops „Dahomey“ öffnet den Raum, um die vielen Facetten der Restitution aus verschiedenen afrikanischen Perspektiven zu diskutieren.

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