Kenias Wohlstand wächst, doch die Lebensverhältnisse der Menschen haben sich kaum verbessert. Begegnungen in einem von sozialer Ungleichheit geprägten Land.
Vor einigen Monaten konvertierte Ben zum Islam. Er heißt nun Mohamed und geht mindestens zweimal täglich in die Moschee. Eigentlich kommt er gar nicht von der Küste Kenias, sondern aus dem Landesinneren, aus Voi. Ob seine Familie immer noch in dem winzigen Haus wohnt, aus dem er vor einem Jahr vor seinem prügelnden und trinkenden Vater davonlief, weiß er nicht. Seitdem lebt er in Mombasa, an der Küste, ohne Kontakt zu seiner Familie. Auf die Frage, weshalb er zum Islam konvertiert ist, meint Ben nur, dass das Leben in Mombasa als Muslim einfacher sei. Ben erzählt ungern, dass er zum Islam konvertiert ist, um zumindest jeden zweiten Tag ein Essen in der Moschee zu bekommen und für kurze Zeit den Hunger zu vergessen. Er erzählt ebenso ungern, dass seine Freunde, bei denen er schläft, auch Straßenkinder sind, die sich nach Einbruch der Dunkelheit wie ein atmender warmer Teppich aus kleinen Körpern über die Gehsteige und die Böden leer stehender Gebäude legen. Ben wendet sein T-Shirt alle paar Tage, so dass die Innenseite nach außen zeigt, weil er sich schämt, nur dieses eine T-Shirt zu besitzen.
Die warmen Wellen des Indischen Ozeans klatschen gegen Bens Füße, während er eine Zigarette raucht und erzählt. Hinter ihm ragen die sandbraunen Mauern von Fort Jesus, einer ehemaligen portugiesischen Festung, in den azurblauen Tropenhimmel. Unter den Mauern der Festung tragen Jugendliche auf einem sandigen unebenen Platz ein Fußballturnier aus. Zwischen Kokospalmen und alten portugiesischen Kanonen aus dem 16. Jahrhundert stehen zwei schiefe, angerostete Torpfosten. Rund um den Platz stehen ZuschauerInnen, dazwischen Buben, die aus geflochtenen Körben heraus Cashewnüsse und Zigaretten verkaufen. Am Eingang von Fort Jesus sitzen Touristenführer im Schatten der Kaschubäume, trinken stark gezuckerten Tee und warten auf Kundschaft. EuropäerInnen seien zu dieser Jahreszeit kaum in Mombasa, doch am Wochenende kämen wieder Leute aus Nairobi, erzählt Faisal, einer der Touristenführer.
Die blühende Tourismusindustrie ließ in den vergangenen Jahren den Wohlstand in Kenia wachsen: Alleine im Jahr 2011 spülte sie 1,2 Milliarden US-Dollar an wertvollen Devisen ins Land. Von diesem Geld profitierten nicht nur die Eliten an der Spitze des Staates. Es half auch dabei, dass sich eine urbane Mittelschicht etablieren konnte, deren Angehörige bei der Supermarktkette Nakumatt italienisches Olivenöl und thailändischen Thunfisch einkaufen und an verlängerten Wochenenden zur Erholung an die Küste fahren. Mit dem Wohlstand stiegen auch die sozialen Unterschiede. Die Unverhältnismäßigkeit innerhalb der politischen Elite zeigt die Dimensionen der Ungleichheit: Der kenianische Premierminister Raila Odinga verdient jährlich mit 430.000 Dollar mehr als US-Präsident Barack Obama und fast das Doppelte des britischen Premiers David Cameron (215.000 Dollar). In die kenianische Lebensrealität übersetzt bedeutet dies das 286-Fache des kenianischen Durchschnittseinkommens. Im August wurde das kenianische Parlament mit neuen Sesseln ausgestattet, um 3.000 Dollar pro Stück, während über 67% der Bevölkerung noch immer von weniger als zwei Dollar am Tag leben.
Die Bedürfnisse einer relativ breiten kenianischen Mittelschicht machen die sozialen Ungleichheiten noch offensichtlicher: Einkaufszentren werden neben Wellblechhütten gebaut, vor südafrikanischen und US-amerikanischen Fastfood-Ketten betteln Frauen mit ihren Kindern auf dem Rücken, Hochglanzwerbeplakate säumen die Straßen von Slums. Der Bild gewordene Wohlstand wirkt wie ein Spiegel, der denen, die nichts besitzen, die eigene Armut täglich vor Augen führt.
In Likoni, am südlichen Ende Mombasas, drängen Frauen mit Körben auf den Köpfen, Kinder in Schuluniform und Männer, die von der Arbeit kommen oder Arbeit suchen, an den Steg. Die Fähre verkehrt nur alle paar Stunden und ist der billigste und direkteste Weg, um auf das Festland zu gelangen. Unten am Wasser, neben der Fähre, ankert eine portugiesische Fregatte, Teil der europäischen Anti-Piratenmission am Horn von Afrika. Vom Festland auf der anderen Seite der Bucht ist es nicht mehr weit bis zur tansanischen Grenze. Mit einem der überfüllten Minibusse, öffentliches Transportmittel in Mombasa, sind es ungefähr zwei Stunden. Der Platz, wo die Minibusse Mombasa in Richtung Tansania verlassen, ist übersät mit schwarzen Plastiksackerln und Verpackungen. Der Rauch der zahllosen offenen Feuer, über denen Maiskolben, Reis und Ugali (Maismehlbrei) gekocht werden, vermischt sich mit dem Gestank von verbleitem Benzin. Händler, die Arme vollgehängt mit gefälschten Markenuhren, in den Händen Rasierklingen, Warndreiecke und billiges chinesisches Parfum, versuchen ihre Ware an die Fahrgäste in den Minibussen zu verkaufen. Dazwischen streunen dürre Hunde und Ziegen umher, die im herumliegenden Abfall nach etwas Essbarem suchen.
Am Ende des Platzes stehen Lastwägen, die Waren Richtung Süden transportieren, nach Tansania, Mosambik, vielleicht sogar bis nach Südafrika. Zu diesen Lastwägen ging Rodgers Otieno um vier Uhr morgens vor zwei Jahren. Ganz zeitig würden die Fahrer noch schlafen und man könne unbemerkt ins Fahrwerk der Lastwägen kriechen, erzählt er. Rodgers klammerte sich damals im Fahrwerk eines Lastwagens fest, bis an die tansanische Grenze. Nachts schlich er sich über die Grenze und versteckte sich danach weitere 4.000 Kilometer lang, um nach Südafrika zu gelangen und dort eine Arbeit zu finden. Nach nur zwei Wochen in Johannesburg wurde er von der Polizei geschnappt, mit anderen Migranten in eine Zelle gesteckt und einige Tage später an der Grenze zu Mosambik ausgesetzt. Damals war Rodgers elf Jahre alt.
Vor der stacheldrahtgekrönten Mauer einer geräumigen Villa im Nobelviertel Kileleshwa in Nairobi liegt eine junge Frau am Straßenrand, bewegungslos, die Augen starr geöffnet, lediglich das Weiß ihres Augapfels ist sichtbar. PassantInnen umringen sie, eine hält ihr mehrere Monate altes Baby im Arm. Es weint. Die Frau am Boden ist kaum älter als 15, eine Teenagermutter. Ein Auto hält neben der Frau, ein Arzt steigt aus und erkundigt sich bei den PassantInnen, was passiert ist. Er zieht sich weiße Latexhandschuhe über, öffnet die Bluse der jungen Frau. Die umstehenden PassantInnen wenden beschämt die Köpfe zur Seite. Der Arzt tastet den Puls, beobachtet die Atmung. Erschöpfung, höchstwahrscheinlich durch Hunger und Dehydrierung zusammengebrochen, sie müsse dringend ins Spital, stellt der Arzt fest. Unter den Menschen entbrennt ein heftiger Streit darüber, wer die junge Frau ins Krankenhaus führen sollte, jeder weigert sich. Der Arzt steigt in sein Auto und fährt davon, obwohl er eigentlich auf dem Weg zur Arbeit ist – in ein Spital.
Stefan Salomon forscht und bereist regelmäßig verschiedene Länder Sub-Sahara-Afrikas. Derzeit arbeitet er am Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen an der Universität Graz.
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