Georgische Träume

Von Redaktion · · 2014/02

Der Staat im Kaukasus befindet sich im steten Spannungsfeld zwischen Russland und der EU. Ein Lokalaugenschein von Eva Maria Teja Mayer.

Putin oder Barroso, Rubel oder Euro. Nach den Präsidentschaftswahlen Ende Oktober 2013 steht die ehemalige Sowjetrepublik im Südkaukasus am Scheideweg: Entscheidet sich Georgien für eine weitere Annäherung an den Westen via EU- und NATO-Mitgliedschaft? Oder doch lieber für die Nähe zum Nachbarn Russland, Schutzmacht der umstrittenen Regionen Abchasien und Südossetien?

Diese Frage spaltet den seit 1991 unabhängigen Staat, ein Konsens ist nicht absehbar. Der Erdrutschsieg des neuen Präsidenten Giorgi Margwelaschwili ändert daran nichts. Er war Kandidat des Parteienbündnisses „Georgischer Traum“, dem auch der milliardenschwere Geschäftsmann und ehemalige Premier Bidsina Iwanischwili angehört. Letzterer zog sich vergangenen November nach nur einem Jahr an der Regierungsspitze aus der aktiven Politik zurück und überließ das nach einer Verfassungsänderung durch mehr Befugnisse aufgewertete Amt seinem Innenminister Irakli Garibaschwili.

Seine GegnerInnen werfen dem Ex-Premier übereilte Wirtschaftsentscheidungen und die vorsichtige Wiederhinwendung zu Russland unter Putin vor. Andere sehen im erklärt EU- und USA-freundlichen Ex-Präsidenten Micheil Saakaschwili, dem Helden der friedlichen Rosenrevolution von 2003, den Staatsfeind Nummer eins. Dessen Regime hatte zuletzt stark autoritäre Züge angenommen. Nach zwei Amtsperioden untersagte ihm die Verfassung eine erneute Kandidatur. Neben Machtallüren wurde ihm vor allem seine aggressiv-ungeschickte Russlandpolitik vorgeworfen, die 2008 im verlorenen 5-Tage-Krieg um Südossetien gipfelte.

Die Archäologin Nino* in Svaneti lobt Saakaschwilis Durchgreifen gegen Korruption in Polizei, Verwaltung und Bildungswesen, beklagt jedoch die niedrigen Gehälter für AkademikerInnen. Aus Geldsorgen hat sie ihr Haus als Hostel für TouristInnen geöffnet, ohne Gemüsegarten und Obstbäume würde das Einkommen trotzdem nicht reichen. Arbeitslosigkeit und Landflucht sind weitaus höher als die offiziellen Angaben, das bestätigt auch Irakli*, der in einer Bank 700 Lari monatlich verdient, umgerechnet knapp 300 Euro. Er bewohnt mit der Großfamilie das ererbte Haus, sein Vater ist noch berufstätig. „Eine vier- bis sechsköpfige Familie braucht mindestens 1.000 Lari im Monat, um über die Runden zu kommen“, erklärt er. Das Einstiegsgehalt bei einer Bank liegt bei ca. 300 Lari, umgerechnet 126 Euro. Die staatliche Mindestpension dagegen beträgt nur 125 Lari, etwas mehr als 50 Euro. Viele RentnerInnen bessern ihr Einkommen mit Nebenjobs auf, verkaufen Selbstgestricktes, Süßigkeiten, Tabakwaren, Kerzen und Heiligenbildchen entlang der Straßen. In der Hauptstadt Tiflis trifft man auffällig viele BettlerInnen; auch die Mehrheit der über 250.000 durch den blutigen ethnischen Konflikt aus Abchasien und Südossetien nach Georgien Vertriebenen ist von Armut bedroht.

Eine wichtige Einnahmequelle ist der Tourismus, die Landeswährung Lari zeigt sich relativ stabil. Auf diesen boomenden Wirtschaftszweig setzte auch die Touristik-Fachfrau Armeia* aus Ägypten. Als koptisch-orthodoxe Christin fühlte sie sich von den islamistischen Muslimbrüdern bedroht und kam wie viele ihrer Landsleute nach Tiflis. Ihre Erfahrungen sind zwiespältig, das ausgeprägte georgische Nationalgefühl schlage oft in Fremdenfeindlichkeit um: „Als zahlender Tourist merkt man das nicht so, aber wenn du als Landesfremde mit orientalischem Aussehen hier arbeiten willst, lernst du ein anderes Gesicht Georgiens kennen.“ Auch von der lokalen orthodoxen Kirche fühlt sie sich im Stich gelassen. „Katholiken überlassen uns einmal in der Woche ihre Kirche.“

Die georgisch-orthodoxe Kirche ist im Land fest verankert und besitzt großen politischen und gesellschaftlichen Einfluss (siehe auch SWM 12/2013, Beitrag Seite 33). Sowohl Mönchs- wie Nonnenklöster erfreuen sich stetigen Zuwachses, es kommt sogar zu Neugründungen. Um ein offizielles Verbrüderungsfoto mit dem georgischen Kirchenoberhaupt, dem greisen Katholikos-Patriarchen Ilia II., kommt kein Politiker herum; selbst Gerüchte über seine angebliche Vergangenheit als russischer Spion vermochten seine Position nicht zu erschüttern. Meine Bitte um ein Interview wehrte sein Sekretariat vergangenen September mit dem Hinweis auf seine angegriffene Gesundheit ab. Im Dezember hatten Vertreter der EUMM, der Überwachungsmission der Europäischen Union, mehr Glück, Ilia empfing sie.

Fakten

Nach der Oktoberrevolution erklärte sich die Demokratische Republik Georgien 1918 für unabhängig von Russland. 1921 erfolgte die  Eingliederung in die Sowjetunion.

1991 erneute Unabhängigkeitserklärung, Sezessionskriege in Abchasien und Südossetien.

Im August 2008 gipfelte der Südossetien-Konflikt im offenen Krieg mit Russland, der etwa 850 Todesopfer forderte. Russland erkennt die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens an, die Fronten bleiben verhärtet.

Georgien: ca.4,5 Mio. EinwohnerInnen.

Abchasien: ca 200.000 EinwohnerInnen. Status: autonome Republik, faktisch außerhalb georgischer Kontrolle, einseitige Unabhängigkeitserklärung 1991, von sechs Staaten anerkannt.

Südossetien: ca 75.000 EinwohnerInnen. Status: faktisch außerhalb georgischer Kontrolle, einseitige Unabhängigkeitserklärung 1991, von fünf Staaten anerkannt. cbe

Nach dem Waffenstillstand soll die Mission seit Herbst 2008 eine weitere Eskalation des bewaffneten Konfliktes zwischen Georgien und Abchasien, Südossetien sowie Russland verhindern: Patrouillen sichern die de-facto-Grenzen, die völkerrechtlich (noch) keine sind und als sogenannte ABLs, „administrative boundary lines“, gelten. Zudem kümmern sich die MitarbeiterInnen um Vermittlung zwischen den Konfliktparteien und kleinere Interventionen im Alltag.

„Werden Bauern bei der Apfelernte verhaftet, weil sie die Grenze überschritten haben, bemühen wir uns um ihre Freilassung“, erklärt Clive Trott, der Leiter der EU-Mission. Russisches Militär hatte im Dorf Ditsi im Grenzgebiet zu Südossetien 2009 einen Drahtzaun als Sperrlinie errichtet, trotz Protestes westlicher PolitikerInnen. Trott weiß, dass DorfbewohnerInnen etwa für einen Friedhofsbesuch die ABLs überqueren und damit Arrest riskieren. „Es sieht nicht so aus, als würde diese Entwicklung in der nächsten Zeit gestoppt.“

Südossetien ist derzeit für Reisende aus dem Westen von Georgien aus unerreichbar. Nach Abchasien kann man aber nach vorheriger Anmeldung im Internet und fünftägiger Wartezeit einreisen. Die Kontrollen an der Inguri-Brücke, die den Grenzfluss überspannt, erfolgen durch die georgische, dann die abchasische und die russische Polizei bzw. das Militär. Die Stacheldrahtverhaue auf der „anderen“ Seite erinnern ein wenig an den Eisernen Vorhang. Als einzige Westlerin wird man äußerst höflich behandelt. Mit dem Bus geht es nach Sukhumi am Schwarzen Meer. Ausgebrannte georgische Villen flankieren die Straße. Auch in der Stadt erinnern Ruinen an den Krieg, der hier 1992/93 tobte. Die Prunkbauten entlang der Strandpromenade dagegen strahlen in neuem Glanz. Die Visagebühr wird vor Ort in Rubel eingehoben. Ein junger Beamter des Außenministeriums hilft bei den Formalitäten, er spricht ausgezeichnet Englisch. „Wir sind ein unabhängiger und demokratischer Staat“, betont er. Den großen Bruder Russland erwähnt er nicht, lieber spricht er von Zukunftsplänen. „Die Straßen gehören ausgebessert, die Stromversorgung ist unzulänglich.“ Er selbst möchte neben russischen Gästen verstärkt westliche TouristInnen ins Land holen: „Ich träume von einer abchasischen Côte d’Azur, wir haben dieses Potenzial.“

Die Realität schaut anders aus: Eine vier- bis fünfköpfige Familie benötigt mindestens 16.000 Rubel, umgerechnet 350 Euro, im Monat. Ohne eigenen Garten und Nutzvieh sei das kaum möglich, erzählt mir Sirma*, eine Architektin. „Für sozial Schwächere ein Problem.“ Die labile politische und wirtschaftliche Situation konnte Abchasien bislang nur durch großzügige Finanzspritzen Russlands meistern: „Putin ist kein Heiliger. Jetzt hilft er uns, aber morgen? Er kann uns jederzeit annektieren. Wir sitzen zwischen zwei Feuern: Georgien und Russland – ist es da ein Wunder, dass wir oft nur für den heutigen Tag leben?“

Computerspezialistin Marina* aus Sukhumi zählt zur russischen Minderheit und pendelt zwischen den Wohnsitzen ihrer Kinder in Moskau und Tiflis. Sie besitzt einen russischen und einen abchasischen Pass. „Georgien akzeptiert abchasische Papiere, Abchasien leider keine georgischen“, kritisiert sie. Möchte ein Georgier oder eine Georgierin Verwandte besuchen, müssen die sich um die Genehmigung bemühen, das kann Wochen dauern, der Erfolg ist unsicher. Marina kann weder der Abspaltung Abchasiens noch der Expansionspolitik Russlands etwas abgewinnen. „In den Köpfen geht der Krieg weiter, eine Versöhnung braucht wohl noch ein bis zwei Generationen – die Wunden sind noch zu frisch.“

Eva Maria Teja Mayer lebt als freie Autorin und Journalistin in Wien. Reisen und Feldforschung führen sie vor allem nach Asien; kürzlich besuchte sie Georgien.

*Namen von der Verfasserin geändert.

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