„Gemeinschaft muss bei der Reintegration mitmachen“

Von Bettina Rühl · · 2024/Jul-Aug
Portrait von Abdullahi Ishaq
© Bettina Rühl

Seit drei Jahren erweist sich ein Ausstiegsprogramm im nigerianischen Bundesstaat Borno als sehr erfolgreich. Bettina Rühl hat mit Abdullahi Ishaq, dem Kopf hinter dem Modell der Deradikalisierung, gesprochen.

Was hat Sie zum Borno-Modell geführt?

Ich habe 25 Jahre lang in der nigerianischen Armee gedient. Ich war General der Militärpolizei und konnte zwischen 2001 und 2002 Erfahrung in der UN-Friedensmission in Sierra Leone sammeln. Später war ich als Militärbeobachter in Liberia eingesetzt. Wenn man sich anschaut, wie sich die Bürgerkriege in diesen beiden Ländern entwickelt haben, stellt man fest, dass alles mit einem kinetischen Ansatz begonnen hat. Das heißt: Die Armee und Rebellengruppen versuchten, militärisch überlegen zu sein und so zum Ende der Kämpfe zu kommen. Tatsächlich haben die Kriege mit Programmen zur Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration (englisch DDR: Disarmament, Demobilization and Reintegration) der Kämpfer:innen geendet. Nachdem ich mit solchen Programmen Erfahrungen sammeln konnte, habe ich mich hier Nigeria ab 2016 an der Aufstandsbekämpfung beteiligt. Seit 2021 bin ich im Ruhestand. Ich habe also fünf Jahre lang in Nigeria den kinetischen Ansatz miterlebt. Und ich muss sagen: Er bringt nicht die gewünschten Ergebnisse.

Inwiefern?

Mal behauptet die Armee, sie habe einen Sieg über Boko Haram errungen, mal erringen die Islamisten einen Sieg über die Armee. Es geht hin und her, ohne dass eine Seite die andere wirklich besiegen kann.

Worum geht es dann im Borno-Modell?

Wir verstehen unter dem Borno-Modell einen Prozess des Dialogs mit den Kämpfer:innen, in dem wir sie davon überzeugen, ihre Waffen niederzulegen und sich zu ergeben. Wir lehnen uns an die Ansätze in Sierra Leone und Liberia an, gehen aber darüber hinaus. Das Programm in Sierra Leone umfasste DDR: Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration. In Liberia wurde das Programm um den Aspekt der Versöhnung – Reconciliation – ergänzt und hieß folglich DDRR. In unserem Programm kommt noch ein „D“ hinzu, für Deradikalisierung: Wir wollen uns auch mit der Ideologie der radikalen Gruppe beschäftigen.

In Sierra Leone und Liberia mussten vor der Reintegration der ehemaligen Kämpfer:innen in die Gemeinschaft viele Vorbehalte und Widerstände überwunden werden. Das ist hier vermutlich nicht viel anders?

Die Gemeinschaft muss bei der Reintegration tatsächlich mitmachen und dazu bereit sein. Vielen ist bewusst, dass viele der Kämpfer:innen zwangsrekrutiert wurden – sogar Kinder wurden entführt und gezwungen, sich der Miliz anzuschließen.

Aber es haben sich ja auch Menschen freiwillig Boko Haram angeschlossen.

Die meisten Mitglieder waren ursprünglich Bäuerinnen und Bauern. Wenn Boko Haram ein Dorf erobert, werden alle Bewohner:innen zwangsläufig ihre Untertanen, fast Sklav:innen: Sie müssen für die Miliz die Felder bestellen. Frauen und Kinder machen sogar den Großteil dieser Mitglieder aus. Außerdem gibt es die einfachen Kämpfer:innen. Von denen waren viele erst sechs Jahre alt, als sie entführt wurden. Anschließend waren sie vielleicht zwölf oder 13 Jahre bei der Miliz, nach ihrem Ausscheiden sind sie immer noch sehr jung. Sie waren Opfer, die schließlich zu Täter:innen wurden. Von den Hardlinern unter den Boko Haram-Mitgliedern, die von der Ideologie wirklich überzeugt waren, sind nach meiner Schätzung über 90 Prozent tot – als Ergebnis von Militäraktionen und als Folge von Kämpfen mit anderen Milizen.

Auch wenn die Täter vorher Opfer waren, muss die Gesellschaft verzeihen können, sonst gelingt die Reintegration vermutlich nicht.

Sie haben Recht, es spielt eine wichtige Rolle, dass die Menschen in Borno bereit sind, zu vergeben und zu vergessen. Bei uns gibt es ein Sprichwort, das besagt, dass man nicht weiterkommt, wenn man das Unrecht von gestern nicht vergisst. Seit einem Jahrzehnt wird im Nordosten Nigerias jeden Tag gekämpft, ohne das die Armee ihr Ziel erreicht hätte. Und wissen Sie, Krieg zu führen ist sehr teuer – für den Staat, aber auch für die Bevölkerung. Die Menschen konnten ihre Felder nicht bestellten, hatten kaum Bewegungsfreiheit, konnten kaum reisen. Das hat sich dank des Borno-Modells geändert.

Wie erfolgreich ist Ihr Modell in der Praxis?

Unser Programm hat am 5. Juli 2021 begonnen, bis Ende November 2023 haben sich mehr als 140.000 Menschen ergeben. Dass Kämpfer:innen in so hoher Zahl aus dem Busch kommen, während die militärische Operation andauert, ist etwas Neues. Normalerweise beginnen die Demobilisierungsprogramme, nachdem ein Friedensvertrag oder wenigstens ein Waffenstillstand geschlossen wurde. Unser Programm hat in Maiduguri relativen Frieden gebracht, wir konnten viele in die Gemeinschaft reintegrieren.

Warum geben die Kämpfer:innen nach so vielen Jahren eines erbitterten Kriegs auf?

Der wichtigste Grund für diese regelrechte Massenkapitulation ist der Tod des Boko Haram-Führers Abubakar Shekau. Er starb am 19. Mai 2021 in den Sambisa-Sümpfen, also kurz nach dem Start unseres Programms. Laut seinem Nachfolger Bakura Modu wurde er von einer rivalisierenden Dschihadistenmiliz getötet, dem Islamischen Staat Provinz Westafrika, die Terrorgruppe hat sich 2016 von Boko Haram abgespalten. Nach Shekaus Tod ist ein Vakuum entstanden, das wir für unser Programm ausnutzen konnten.

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