Wann ist ein Leben als geglückt anzusehen? Wer beurteilt das? Und nach welchen Maßstäben? Geglückt oder missglückt – hängt von Lebensentwürfen ab, von Überzeugungen und Glaubensgrundsätzen. Auf jeden Fall ist geglücktes Leben nicht Schicksal allein, zumindest eine Portion „eigenes Zutun“ steckt darin.
Oder doch „mit Dativ“? Meinen wir denn: „Ihr ist ihr Leben geglückt“ wie eine Torte? Oder meinen wir nicht: „Ihr Leben ist geglückt“ – wobei „der gesichtspunkt der persönlichen einwirkung stärker zugunsten der schicksalsfügung zurückgedrängt“ ist, wie Grimms Wörterbuch hierzu erläutert? Torten und Experimente glücken oder missglücken jemandem, je nachdem, ob jemand sich „richtig“ verhält oder nicht. Ist es beim „Leben“ ebenso? Für Torten gibt es Rezepte, für Experimente gibt es Regeln – wie ist das mit dem Leben?
Zunächst: Was mir glückt, muss mich nicht glücklich machen. Die geglückte Torte kann mir doch im Magen liegen. Alle Versuche des kosmisch operierenden Konstrukteurs Trurl in einem utopischen Roman von Stanislaw Lem, die „Hedostase, d.h. das hundertprozentig stabilisierte Glück“ herzustellen, scheitern kläglich. Trurl erzeugt Kulturen im Massenversuch, implementiert ihnen immer wieder neue Faktoren. Erschütternd das Ergebnis, etwa im „Präparat Nr. 6590“, wo es nur hoch begabte, schöpferische Genies gibt: ein „Ort rastloser, ja geradezu wütender Schaffensfreude“, an dem bald niemand mehr etwas liest, ansieht oder jemandem zuhört, weil jeder selbst alles meisterhaft kann. In dieser gedachten Welt von lauter Genies glückt allen immer alles, aber: „Hinter manchen Fenstern klapperten noch vereinzelt Schreibmaschinen, klecksten Pinsel und kratzten Federn übers Papier, immer häufiger jedoch geschah es, dass sich irgendein Genie, verzweifelt über den völligen Mangel an Anerkennung, aus den höhergelegenen Stockwerken auf die Straße stürzte, nachdem es zuvor seine Werkstatt in Brand gesetzt hatte.“
Wenn allen alles glückt, was sie wollen, so garantiert das also noch nicht, dass irgendjemand glücklich ist. Menschen brauchen noch etwas anderes um glücklich zu sein, als das Gelingen ihrer Pläne; es reicht ihnen auf Dauer nicht, ihr Werk zu betrachten und zu sehen, „dass es gut ist“ wie der Gott der biblischen Schöpfungsgeschichte. Menschen brauchen Andere.
Dann: Was mich glücklich macht, stellt nicht sicher, es muss nicht einmal dazu beitragen, dass mein Leben glückt. Zumindest sehen religiöse Menschen das so. Jede Religion, so nehme ich an, vermittelt ihren Gläubigen einen Maßstab für das verunglückte wie für das geglückte Leben. Dieser muss nicht mit dem Glück im Leben zusammenstimmen, er kann ihm sogar gegenläufig sein. „Ende gut, alles gut“ ist in diesem Sinn, was zählt. Und das gute Ende ist in einer Religion jeweils bekannt. Ein Unglück, etwa plötzlicher Tod durch Blitzschlag, kann dem ganzen Leben (nach aztekischer Auffassung) Sinn verleihen, kann einen „geglückten Tod“ bedeuten. In den „Seligpreisungen“ bei Lukas heißt es: „Glückselig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.“
Also drittens die Frage: Was mich unglücklich macht, muss das verhindern, dass mein Leben glückt? In religiösem Verständnis nicht. Aber gibt es dafür nicht auch Grenzen, gibt es nicht Verhältnisse zwischen Menschen, die sowohl „Glück“ als auch ein „Glücken des Lebens“ verhindern oder wenigstens behindern? Mit Menschenrechten sind solche Grenzen formuliert. Jemandem sein Recht auf Arbeit und Bildung, auf Selbstbestimmung und Würde zu versagen, behindert ihn in seinen Lebensmöglichkeiten wesentlich. Aber es sind Minimalregeln, deren Einhaltung persönliches Scheitern nicht ausschließt.
Geglückt ist, was einem Ziel, einem Plan entspricht. Wer den Plan entwirft und das Ziel setzt, kann das beurteilen. Der Gott der Christen und Muslime hat den Plan für das Leben jedes Einzelnen gemacht und er urteilt darüber, wer seinen Plan erfüllt hat und wer nicht. Er hat ihn bekannt gemacht, hat auch die Wegmarken zu dessen Erfüllung durch Gebote und Verbote gesetzt.
Ebenso erkennbar sind die Pläne von Quetzalcoatl, der gläubigen Azteken, die von Ogun, den PriesterInnen des Candomblé, die Gesetze von Karma und Dao in Hinduismus und Daoismus – und für alle diese und viele andere Welt- und Lebens-Sinnpläne gibt es Wege und Mittel. Die Ziele sind vorgegeben, die Mittel jeweils denen bekannt, die sich in einer Religion orientieren.
Was für ein Maß kann aber haben, wer sich nicht religiös orientiert? Säkularisierten Menschen als solchen stehen keine Tröstungen irgendeiner Religion offen, nicht einmal ein vorgegebenes Lebensziel. Wenn sie konsequent sind, können sie keiner „Schicksalsfügung“ vertrauen. Ihnen zerfällt das Postament der religiösen Menschen zu einem zwar wissenschaftlich erklärbaren, ideologisch aber freischwebenden Ensemble von Naturkräften, ohne Absicht und ohne weiteren Sinn. Weil das nicht leicht auszuhalten ist, gibt es auch Formen des Schicksalsglaubens ohne Vorsehung, wie in der Astrologie: Die Sterne erklären, was geschieht, aber sie belohnen und bestrafen nicht.
Solche Menschen können das Glücken und Geglücktsein ihres Lebens an ihren eigenen Entwürfen und Erwartungen messen, am Urteil ihrer Mitmenschen oder dem erhofften Urteil einer Nachwelt. Wem sein Lebensentwurf gelungen ist, unter Widrigkeiten und vielleicht mit Abstrichen, kann dann gleichsam als seine eigene Nachwelt zurückblicken und braucht dafür keine andere. Dazu muss aber zuerst einmal ein solcher Lebensentwurf da gewesen, entworfen und dann von dem, der ihn lebt, auch auf Dauer für gut befunden worden sein.
Nach dem Urteil der Anderen, der Mit- oder der Nachwelt, kann jemand in beider Hinsicht sich auch getäuscht haben: Sein Plan kann verworfen, dessen Gelingen bestritten werden.
Das Urteil der Nachwelt hängt aber zuerst einmal davon ab, dass es eine solche gibt, und das erfordert: nicht sofort vergessen zu werden. Die Sorge darum bestimmt viele Handlungen im Leben – vom Pflanzen des Baumes über das Anlegen von Archiven aus Geschichten und Bildern (bemerkenswert, wie attraktiv Erinnerungsmaschinen sind, von der Kamera bis zu den Speichern der PCs), die eigene Bibliothek, deren Auflösung schon jetzt schmerzt, bis zum Trost, in Kindern weiterzuleben. All das findet sich bei Menschen, die sich das Leben ansonsten als einen Prozess von Evolution erklären, in die Zukunft offen, in dem jede Gegenwart, also auch das eigene Leben, nur ein Übergang zu etwas anderem ist.
Aber schon damit kann offenbar empfunden werden, es sei einem etwas geglückt: dass etwas bleiben wird, ein Stückchen Unsterblichkeit. Wenn Erinnerung gesichert ist, so wird vielleicht einmal jemand über mein Leben sagen, es sei geglückt. Dieses „Wenn“ und „Vielleicht“ deuten jedoch ein ziemliches Risiko an.
Stellen die eigenen Entwürfe sich als unerreicht heraus, so liegt darin ein Scheitern, aber noch nicht unbedingt ein Verunglücken. Dafür gibt es ein altes Wort: in magnis voluisse sat est (in großen Dingen genügt es, sie gewollt zu haben). Dabei bleibt jedoch offen, wer die „magna“ richtig erkennt, also die „großen Dinge“, bei denen es ausreicht, sie gewollt zu haben.
Mehr als gescheitert, verunglückt werden wir einen Entwurf nennen, den wir als Irrtum erkennen. Dass dies jemand selbst erkennen kann, ist der tiefere Sinn des anderen alten Wortes, niemand sei vor dem Tod glücklich zu nennen. Erkennen es erst die anderen, so wäre auch ein glückliches Leben doch nicht geglückt: Sind die eigenen Entwürfe schon als Pläne misslungen, als Zielsetzungen verkehrt gewesen, so ist das Leben missglückt, ob es glücklich war oder nicht. Aber wer beurteilt das, wenn wir keinen Gott annehmen?
Können andere, seien es Zeitgenossen oder Spätere, über meine Pläne und Zielsetzungen urteilen? Können wir Heutigen vielleicht besser darüber urteilen, ob das Leben des Sokrates oder Hitler geglückt ist, als sie selbst das konnten? Spätere können vielleicht Erfolg und Misserfolg eines Lebens besser abschätzen. Sie können noch ein Scheitern als etwas Vorläufiges sehen, wie sie auch sehen können, dass ein Erfolg nur scheinbar war.
Sokrates ist einen angeordneten Tod gestorben, hat diesen aber doch freiwillig angenommen und damit bis zu seinem Ende nach dem gelebt, was er für das Richtige ansah. Was ihm geglückt ist, wenn die Berichte stimmen, war, seinen Auffassungen treu zu bleiben. Ansonsten ist ihm vieles missglückt, zuletzt der Versuch, die Richter in seiner Sache zu überzeugen. Wäre er ohne Prozess und Todesurteil gestorben, so wäre wahrscheinlich sein Sterben weniger klar mit dem Leben zu verbinden, aber dieses könnte deshalb um nichts weniger und um nichts mehr geglückt sein.
Ist also ein Leben geglückt, das bis zum Schluss nach eigener Überzeugung gelebt wird? Dieses Kriterium trifft auf Fanatiker ebenso zu wie auf Sokrates. Es trifft beispielsweise auch auf Hitler zu. Auch ihm ist vieles missglückt, zuletzt der Versuch, eine Weltordnung durchzusetzen, die er für die höchste hielt. Wir wissen nicht, wie er vor seinen Richtern gesprochen hätte, aber wahrscheinlich ist er seinen Überzeugungen bis zuletzt treu geblieben. Die Nachwelt fordert aber nicht nur die Geschlossenheit eines Lebens für das Prädikat „geglückt“, sondern auch, dass es nach richtigen oder guten Grundsätzen gelebt wurde. Das hat sie dem Sokrates meistens zugestanden, Hitler meistens nicht.
Tritt die Nachwelt und deren Urteil so an die Stelle des richtenden Gottes oder eines kosmischen Prinzips, dann mit wesentlichen Unterschieden: Sie ist weder allwissend, noch ist sie sich immer einig, und sie ist selbst jeweils in der Zeit, in der Veränderlichkeit auch der Maßstäbe. Ihr Urteil wird vielleicht gar nicht stattfinden, wenn ich schnell vergessen bin. Mit Sicherheit wird es irgendwann einen Zustand des Universums geben, in dem es gar keine Nachwelt und somit auch deren Urteil nicht mehr geben wird. Das Urteil der Nachwelt hat einen weiteren entscheidenden Nachteil: Es ist jetzt noch nicht bekannt. Das besagt, dass dieses mögliche zukünftige Urteil bei gegenwärtigen Entscheidungen nicht leitend sein kann.
Das Ziel ist nicht vorgegeben, der Plan nicht gezeichnet von vornherein, wenn der Weg Entwicklung heißt. Beim einzelnen Menschen wie bei ganzen Gesellschaften kann das zwar bedeuten: Dasjenige sei zu tun oder zu erreichen, was andere schon bisher tun oder erreicht haben. Aber diese anderen stehen ihrerseits selbst in einem Prozess. Niemand, kein einzelner und keine Gesellschaft entwickelt sich stellvertretend für andere. Und niemand entwickelt sich genau so wie andere. Darum gilt für alle, dass der Maßstab für die Ziele der Entwicklung in ihnen selbst liegt, von ihnen selbst gewählt und gerechtfertigt werden muss.
Entwicklung ist ein nach vorne offener Weg. Das Maß für den nächsten Schritt liegt in der Vergangenheit, wie jemand selbst sie kennt und sieht; in der Erfahrung und dem Bewusstwerden von Mängeln in der Gegenwart, wie jemand selbst sie bewertet; in Erwartungen aus Veränderungen für die Zukunft, wie jemand selbst sie erhofft. Das gilt für Gesellschaften wie für Einzelne. Die Entwicklung jedes Einzelnen hat ein Ende, wie sie einen Anfang hat, denn am Ende stirbt jeder.
Es geht also offenbar auch darum, was der eigene Tod bedeutet. Dass er das Ende eines individuellen Lebens ist, scheint trivial. Was das bedeutet, ob es von großer oder von gar keiner Bedeutung ist, bleibt offen. Er kann als Übergang zu einem anderen, wirklicheren Leben gesehen werden, als Episode in einer Reihe von Existenzen oder als periphere Erscheinungsform der rhythmischen Erneuerung eines Volkes. In jedem dieser Fälle bedeutet er nur ein scheinbares Ende innerhalb einer erhofften Unendlichkeit.
Der eigene Tod kann auch gesehen werden als Mittel zur Verbesserung des Lebens anderer, wie im Fall von „Selbstmordattentätern“ (wie sie von ihren Gegnern genannt werden) beziehungsweise „Märtyrern“ (wie sie sich selbst nennen) in einem „geglückten Tod“. Er kann auch schlicht nur als Ende gesehen werden.
Wir haben bisher von Einzelnen gesprochen. Gibt es aber nicht auch so etwas wie „glückende Kulturen“, von denen der Hamburger Philosoph Heinz Paetzold sagt, es seien solche, „die das menschliche Leben nicht nur erleichtern, sondern es auch reicher machen“? Wenn „Kulturen glücken“ können, so müssen sie auch „scheitern“ können. Wer das beurteilt, wären wieder sie selbst, ihre Mitwelt und ihre mögliche Nachwelt. Solche Urteile bleiben in Wirklichkeit stets Machtworte, im Beharren auf dem Eigenen, im auswählenden Anerkennen oder Verwerfen des Fremden.
Nicht nur Menschen leben, auch Tiere und Pflanzen. Sie wissen vermutlich nicht um ihren Tod, aber wir wissen darum. Und wir wissen auch, dass fast alle Arten von Lebewesen wieder ausgestorben sind. Ist das Leben der Saurier geglückt, weil es heute bunte Vögel als ihre Nachfahren gibt? Ist das Leben einer Legehenne geglückt, wenn sie den Plan ihres Besitzers erfüllt hat? Hat denn „die Natur“ oder „die Evolution“ einen geheimen Plan, den sie mit der Entstehung der Arten verfolgt?
Für die Idee von einem geglückten Leben „ohne Dativ“ ist ein wesentlicher Unterschied festzuhalten: Es geht nicht um Ziele im Leben, sondern um Ziele des Lebens. Ziele im Leben erreichen wir oder auch nicht, das unterscheidet Menschen nicht von anderen Lebewesen.
Für Ziele des Lebens hat säkularisiertes Denken zwei große Alternativen, die Erich Fromm als „Haben“ und als „Sein“ benannt hat. Wir können sie auch als Anhäufung (von Sachen, seien sie materieller oder geistiger Art) und als Teilnahme (im menschlichen Miteinander) bezeichnen. Ersteres liegt dem Kapitalismus, zweiteres dem Sozialismus als Idee zugrunde. Karl Marx hat 1844 beide formuliert: „Was durch das Geld für mich ist, was ich zahlen, d.h. was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Ich bin hässlich, aber ich kann mir die schönste Frau kaufen. Also bin ich nicht hässlich.“ Das ist die eine Perspektive, von der wir auch im Zeitalter des freien globalen Geldflusses nicht sagen können, wie sie für alle Menschen zu verwirklichen wäre. Sie lebt vom Unterschied. Die andere klingt utopisch: „Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert. Ich hätte 1) in meiner Produktion meine Individualität, ihre Eigentümlichkeit vergegenständlicht … 2) In deinem Genuss oder deinem Gebrauch meines Produkts hätte ich unmittelbar … ein menschliches Bedürfnis befriedigt (und) dem Bedürfnis eines anderen menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft …“ Es wäre aber eine Utopie für alle.
Franz M. Wimmer lehrt an der Universität Wien mit dem Forschungsschwerpunkt interkulturelle Philosophie.
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