Gebrochene rote Linien

Von Hakan Gürses · · 2007/07

Es wird heute viel von der entgrenzten Welt und dem freien Markt und den Segnungen des Weltmarktes gesprochen. Ein näherer Blick zeigt jedoch, dass diese Freiheit nur für Menschen bestimmter Klassen und Gegenden gilt.

Kinder statt Inder!“ lautete im vergangenen Jahrzehnt ein volksgesundheitlich angelegtes Motto in Deutschland. Wenn man es mit der erforderlichen Bosheit liest, wird deutlich, dass sich dieser demografische Imperativ heute zur Hälfte erfüllt hat, und zwar ökonomisch: Nicht die unerwünschten Inder sorgen inzwischen für die deutsche Warenproduktion, sondern Kinder. Aber eben nur zur Hälfte, denn unter den für unsere T-Shirts oder Schuhe oder Grabsteine arbeitenden Kindern befinden sich sicher auch viele indische.
Die eigentliche Intention des Kinderreimes hat sich hingegen als Wunschdenken erwiesen: Der Bevölkerungsrückgang in den Industriestaaten, so auch in Deutschland, geht munter weiter. Und: Ein Gutteil der indischen IT-Fachleute kann sich trotz des xenophob-biologistischen Mottos weltweit den Ort aussuchen, wo er arbeiten und leben will. Das Beispiel macht wieder einmal deutlich, dass der Schrei nach der Regulierung von Migration nur eines bewirkt: eine seltsame Verschiebung in den Strukturen der Freizügigkeit.
Das erinnert mich an meine erste Begegnung mit Grenzen, die in meiner Geburtsstadt Istanbul, in der Volksschule stattfand. „Unser Land ist an drei Seiten von Meeren umgeben“, dozierte meine erste Lehrerin, und wir Minderjährige hörten den Satz in den folgenden fünf Jahren von vielen anderen Pädagoginnen und Pädagogen.
Nicht diese drei Seiten, sondern jene, die nicht von einem Meer umgeben war, gab mir damals Rätsel auf. Es handelte sich dabei, darstellerisch ausgedrückt, um gebrochene rote Linien. Das war die Ostgrenze der Türkei, die sie von der UdSSR, vom Irak, Iran und von Syrien trennte. Jahre später las ich dann in einem großartigen Theaterstück folgende Paraphrase auf den nämlichen Lehrsatz: „Unser Land ist an drei Seiten von Meeren, an vier Seiten von Feinden umgeben!“ Das gilt auch heute, in Zeiten der Globalisierung, wenn auch in einem übertragenen Sinn: Die Feinde stellen nicht mehr die Nachbarländer dar, sondern die Grenzen selbst.

Eine Grenze ist per definitionem eine Linie, die zwei Flächen voneinander trennt. Das ist ein reziprokes Verhältnis, gilt also für beide Seiten der Linie. Gut, es gibt auch Grenzschranken, die nur einseitig begehbar sind, etwa im Supermarkt. Durch eine Schranke betritt man die Zone der wohl bedeutendsten humanen Tätigkeit: des Einkaufens; darf sie aber nicht wieder durch diese verlassen, damit der wohl bedeutendste humane Wert, das Recht auf Eigentum, nicht unnötig gefährdet wird. In der Regel aber hat eine Grenze für beide von ihr getrennte Flächen dieselbe Funktion.
Wie soll man dann jene Grenzen bezeichnen, die eine Seite von der anderen trennen, die andere aber nicht von der einen? Die für die einen durchlässig sind, für die anderen aber gesperrt? Um diesen geometrisch wie logisch mysteriösen Sachverhalt zu verstehen, müssen wir uns von der Vorstellung mathematischer oder politischer Gleichheit verabschieden. Wir sollten uns überhaupt gar nichts vorstellen, sondern uns das Selbstverständliche noch einmal anschauen.

Zwei Wesenszüge heutiger Grenzen werden dann, glaube ich, sichtbar:
1. Die nördlichen Grenzen unterscheiden sich von den südlichen Grenzen. Will ich etwa in Indien eine Fabrik bauen und somit die Produktion meiner Waren in das Billiglohnland verlagern, stehen mir dessen Grenzen offen (Stichwort: Wirtschaftsstandort). Will aber beispielsweise eine indische Hilfsarbeiterin nicht in meiner Fabrik dort arbeiten, sondern nach Österreich kommen, um ihre Arbeitskraft hier zu verkaufen, findet sie sich vor geschlossenen Grenzen (Stichwort Sozialstaat).
2. Die Grenzen sind nicht gleich für Personen aus verschiedenen Schichten. Bin ich nun nicht die nämliche Inderin, sondern gelte ich dank meiner guten Ausbildung in einem gerade begehrten Bereich als „Schlüsselkraft“, öffnen sich mir die Grenzen – obwohl ich ein Inder bin. Nationale Grenzen dienen heute paradoxerweise als internationale Parameter für neue Klassen. Sag mir, welche Grenzen dir offen stehen, und ich sage dir, welcher Klasse du angehörst!

Der Diskurs über Globalisierung, der von der Entgrenzung der Welt spricht, verschleiert somit einen Widerspruch: Mobilität und Freizügigkeit gelten zwar für Waren, Geld und Individuen aus bestimmten Ländern und/oder sozialen Schichten. Diese Entgrenzung begrenzt aber nachgerade die Mobilität einer weltweit viel größeren Gruppe von Menschen. Diese braucht man nämlich im Billiglohnland als billige LohnarbeiterInnen.
Ja, die Welt wird immer kleiner. Aber nur für jene, denen gebrochene rote Linien niedrige Produktionskosten, Steuerbegünstigung, Markt für Exportartikel, oft auch touristische Attraktion bedeuten. Für die anderen stehen gebrochene rote Linien zumeist für gebrochene Existenzen. Sie sind wirklich an allen Seiten von Feinden umgeben: von nationalen, wirtschaftlichen und sozialen Grenzen – vor denen sie weder ihr Wirtschaftsstandort noch unser Sozialstaat schützen können.

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