In Österreichs Schulen ist Mehrsprachigkeit eine Selbstverständlichkeit. Unser Bildungssystem wird dem nicht gerecht. Es muss sich radikal verändern.
Österreich ist eine Migrationsgesellschaft. Viele Menschen in diesem Land wachsen mehrsprachig auf und dementsprechend ist sprachliche Vielfalt auch für die Schule kennzeichnend. Als Lehrer an einer Wiener AHS war ich Klassenvorstand einer 5. Klasse mit 27 Jugendlichen und mindestens 17 unterschiedlichen Erstsprachen. Das Wechseln zwischen den Sprachen und das Mischen von Sprachen war für sie etwas Selbstverständliches und Alltägliches. Sie trafen allerdings auf ein Schulsystem, das nach wie vor dominant einsprachig ist und in dem sie ihr sprachliches Repertoire nicht so ausschöpfen können, wie es für ihre Identitätsbildung, ihre Bildungskarriere und ihren beruflichen Erfolg notwendig wäre.
Differenzierung nötig. Die österreichische Schule muss sich grundlegend verändern, damit sie der mehrsprachigen Wirklichkeit ihrer Schüler*innen gerecht wird. Für das Schuljahr 2019/20 weist die Statistik Austria 26,8 Prozent Schüler*innen „mit nicht-deutscher Umgangssprache“ aus. In Wien liegt dieser Anteil bei 52,7 Prozent. Allerdings geben diese Zahlen keine Auskunft über die tatsächliche mehrsprachige Lebenswirklichkeit und sagen auch nichts darüber aus, ob und in welchem Ausmaß diese Schüler*innen Deutsch verwenden. Denn diese Statistik beruht auf der ersten Angabe zum Merkmal „im Alltag gebrauchte Sprache(n)“ – unabhängig davon, ob als zweite oder dritte Sprache Deutsch angegeben wurde.
Wir brauchen einen differenzierteren und genaueren Blick auf die mehrsprachige Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen. Diesen Blick ermöglichen Forschungsprojekte wie „Wege in die Zukunft“ am Institut für Soziologie der Universität Wien oder der höchst erfolgreiche Redewettbewerb „Sag’s multi“, der mehrsprachigen Schüler*innen seit über zehn Jahren eine Bühne bietet.
Das Schulnetzwerk „voxmi“ wiederum verbindet jene Schulen, die die Mehrsprachigkeit ihrer Schüler*innen durch gezielte Projekte und durch sprachsensiblen Unterricht in allen Fächern fördern – angesichts der für ganz Österreich charakteristischen Mehrsprachigkeit sollten alle Schulen „voxmi“-Schulen sein. Sprachliche Bildung, die Mehrsprachigkeit fördert, muss sich vom Kindergarten bis zur Universität und durch alle Unterrichtsgegenstände ziehen.
Falsche Denkweise. Wir brauchen ein Schulsystem, das zu den Kindern und Jugendlichen passt – nicht umgekehrt. Einsprachig ist Schule in Österreich insofern, als Sprachfördermaßnahmen größtenteils auf die Deutschförderung beschränkt sind und der Unterricht in anderen Erstsprachen nur am Rande eine Rolle spielt. Studien wie jene zum Projekt SchriFT (Schreiben im Fachunterricht der Sekundarstufe I unter Einbeziehung des Türkischen) in Deutschland haben gezeigt, dass Schüler*innen durch eine Verschränkung von sogenanntem muttersprachlichen Unterricht mit dem Fachunterricht (zum Beispiel in Physik) und dem Deutschunterricht sowohl fachlich als auch sprachlich (in ihrer Erst- und Zweitsprache) profitieren können.
Ein massiver Ausbau des muttersprachlichen Unterrichts in Österreich würde vielen Schüler*innen ermöglichen, ihre Erstsprachen auch im Unterricht als Lernmedium und als Werkzeug des Denkens zu nutzen. Und sie würden ihre Kompetenzen in der Bildungssprache Deutsch leichter und besser aufbauen und erweitern können.
Seit 2018/19 werden Kinder und Jugendliche, denen (aufgrund des fragwürdigen Deutschtests MIKA-D) ein Förderbedarf im Deutschen zugeschrieben wird, in Deutschförderklassen unterrichtet. Dieses Fördermodell ist defizitorientiert, vernachlässigt die mehrsprachigen Ressourcen der Kinder und wird auch von sehr vielen Expert*innen aus der Schulpraxis und der Wissenschaft abgelehnt. An seiner Stelle wäre eine Deutschförderung notwendig, die in erster Linie integrativ stattfindet. Kinder lernen am besten miteinander und voneinander – wenn sie entsprechend professionell begleitet werden und die Lerngruppen klein genug sind.
Eine Frage der Macht. Wir brauchen daher auch eine Reform der Lehramtsausbildung. Sprachliche Bildung muss verpflichtender Teil des Studiums für Lehrer*innen aller Fächer sein.
Sprachen sind aus sprachwissenschaftlicher Sicht gleichwertig, in der Gesellschaft sind sie es nicht. Unsere Schulen reproduzieren und verstärken bestehende Machtverhältnisse mit Blick auf die Wertigkeit von Sprachen. Warum wurde nicht schon längst der Sprachenkanon erweitert, um auch Sprachen wie Türkisch, Arabisch oder Farsi als Fremdsprachen anzubieten? In der Ausbildung müssen angehende Lehrkräfte außerdem lernen, was sie Rassismus und Diskriminierung entgegensetzen können und wie Schule gestaltet werden muss, die nicht ausgrenzt.
Die Gesellschaft profitiert. Wir brauchen eine inklusive und diskriminierungskritische Schule, in der Erfahrungen des Rassismus, der Ausgrenzung oder Nicht-Zugehörigkeit nicht verstärkt werden, sondern aktiv dagegen gearbeitet wird. Schüler*innen haben ein individuelles sprachliches Repertoire, auf das sie zurückgreifen. Ihre Erstsprache sagt weder etwas über ihre Staatsbürgerschaft noch über ihre Kompetenz in der dominanten Sprache Deutsch aus – und schon gar nichts über ihre Zugehörigkeit.
Wenn wir eine solidarische und inklusive Gesellschaft wollen, dann dürfen wir nicht Grenzen zwischen „Einheimischen“ und „Zugewanderten“, zwischen Kindern mit und ohne sogenannten Migrationshintergrund ziehen.
Viele der notwendigen Maßnahmen kosten Geld – aber zum einen kann die Gesellschaft davon in jeder Hinsicht profitieren, wenn die Bildungsverläufe mehrsprachig sozialisierter Menschen weniger von prekären Verhältnissen geprägt sind und sie stattdessen ihre Bildungschancen wachsen sehen, beruflichen Aufstieg erleben und ihre Handlungsspielräume erweitern können. Zum anderen ist Mehrsprachigkeit jenseits einer kapitalistischen Logik wertvoll: Sie eröffnet mehr Möglichkeiten der Kommunikation, sie trägt zur Persönlichkeitsbildung bei und schafft Zugehörigkeiten – und zwar jene Mehrfachzugehörigkeiten, die für eine durch Migration geprägte Gesellschaft charakteristisch sind und die in einer differenzsensiblen, sprachenfreundlichen und diskriminierungskritischen Schule der Normalfall sind.
Hannes Schweiger ist im Fachbereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache am Institut für Germanistik und am Zentrum für Lehrer*innenbildung der Universität Wien tätig.
Weiterführende Links:
awblog.at/sprachstatistiken-kategorisierungen-mit-weitreichenden-folgen
Zum Weiterlesen:
Harald Haarmann
Die seltsamsten Sprachen der Welt
Von Klicklauten und hundert Arten, „ich“ zu sagen.
C.H. Beck Verlag, München 2021
Rita Mielke / Hanna Zeckau
Atlas der verlorenen Sprachen
Duden Verlag, Berlin 2020
Kübra Gümüşay
Sprache und Sein
Hanser Verlag, Berlin 2020
Olga Grjasnowa
Die Macht der Mehrsprachigkeit
Über Herkunft und Vielfalt.
Duden Verlag, Berlin 2021
Melisa Erkurt
Generation Haram
Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020
Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder, Nummer 179:
Viele Sprachen – eine Sprache?
Wien, November 2020
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