Weithin hört man das Trommeln und Singen. Gruppenweise ziehen großteils junge Leute, auch viele Kinder, durch die Straßen von Banjul, der Hauptstadt des kleinen westafrikanischen Landes Gambia. Die Stimmung ist ausgelassen, es wird gesungen und getanzt. Auf den T-Shirts der Jugendlichen prangen Logos der diversen Freizeitclubs, denen sie angehören. Andere haben ihre Hosen und Hemden eigens zerrissen oder zerschnitten. Einige Männer, Jugendliche wie Erwachsene, tragen Frauenkleider, Perücken, Hüte oder Turbane. Die meisten Gruppen scharen sich jeweils um eine einzelne besonders auffällig kostümierte Gestalt, den „Hunting“. Er ist in Felle oder Decken gehüllt, sein Kopf wird von Hörnern oder einem geschnitzten Tierhaupt gekrönt. Am Rücken trägt er Kalebassen, große Schneckenhäuser und Muscheln, die durch das regelmäßig darauf versprengte Palmöl eine knallgelbe Färbung angenommen haben. Der Weg wird ihm von zwei BegleiterInnen gewiesen, die Schüsseln mit Palmöl tragen.
Man könnte denken, bei dem fröhlichen Treiben handle es sich um einen Karnevalsumzug. Doch hier wird Weihnachten gefeiert, und dies in einem mehrheitlich muslimischen Land. In der Zeit vom 24. Dezember bis Neujahr, fallweise auch länger, sind ChristInnen und MuslimInnen in Banjul und in den Dörfern der Umgebung unterwegs, um gemeinsam Weihnachten zu begehen.
„Ob Christen oder Muslime, wir alle feiern Weihnachten“, sagt Yatunde Monday, eine Methodistin, die in Manjai Village lebt. Und Eku Keita, eine Katholikin aus Banjul, drückt es so aus: „Weihnachten ist ein Fest für alle, denn Muslime wie Christen, wir alle teilen dieselbe Freude.“
1,4 Millionen Menschen leben in Gambia. Rund 90 Prozent davon sind MuslimInnen, acht bis zehn Prozent sind ChristInnen und ein bis zwei Prozent gehören so genannten Naturreligionen an. Die Verfassung garantiert Religionsfreiheit, in den Schulen werden Bibel- und Koranunterricht auf freiwilliger Basis angeboten. Das Verhältnis von MuslimInnen und ChristInnen ist von gegenseitiger Toleranz geprägt. Ehen von ChristInnen und MuslimInnen sind, vor allem im Großraum Banjul, keine Seltenheit. In vielen Familien gibt es Mitglieder, die zum Christentum oder Islam konvertiert sind. Deshalb werden muslimische und christliche Feste gemeinsam gefeiert, wie etwa Weihnachten, Ostern, das muslimische Opferfest „Tobaski“ oder „Koriteh“, mit dem das Ende des Fastenmonats Ramadan begangen wird.
Amtssprache der ehemaligen britischen Kolonie ist nach wie vor Englisch, das auch für den Schulunterricht verwendet, aber nicht von allen EinwohnerInnen Gambias gesprochen wird. Vor allem im Westen des Landes ist die Verkehrssprache Wolof, das auch die Sprachlandschaft in Gambias einzigem Nachbarland, Senegal, dominiert. Die Wolof machen ungefähr fünfzehn Prozent der Bevölkerung aus, größte Ethnie sind die Mandinka mit fast 40 Prozent. Weitere größere Ethnien sind die Ful, die Djola und die Serahulis. Geringeren Bevölkerungsanteil haben die Serer, die Manjago und die Aku.
Obwohl zahlenmäßig eine kleine Minderheit von nicht einmal zwei Prozent, die sich im Großraum Banjul konzentriert, sind die auch KreolInnen genannten Aku in Wirtschaft und Politik stark vertreten. Dies hängt mit einer für westafrikanische Küstenstaaten charakteristischen Geschichte der Kolonialisierung zusammen. Gambias kreolische Bevölkerung besteht mehrheitlich aus Nachkommen von aus der Sklaverei oder aus Sklavenschiffen befreiten und in der Küstenstadt Banjul angesiedelten Menschen, die aus verschiedenen Teilen Westafrikas verschleppt worden waren. Die britischen Kolonialherren hatten Banjul gegründet, um die nach dem Verbot des Sklavenhandels im Jahr 1807 weiterhin am Gambia River entlang fahrenden Schiffe der Sklavenhändler abfangen zu können.
Aus ihren Herkunftsländern entführt und ohne gemeinsame Sprache gehörten die Aku zunächst der untersten Bevölkerungsschicht an. Sie lebten aber auch im engsten Kontakt mit den EuropäerInnen und waren die ersten, die christliche Missionsschulen besuchten, Englisch lernten und zum Christentum konvertierten. Die westliche Ausbildung brachte Vorteile und ermöglichte den Aufstieg in hohe Positionen, die so manche der Nachkommen heute noch innehaben.
Von traditionellen Maskeraden der Vorfahren der Aku aus Nigeria und Sierra Leone beeinflusst sind viele der Kostüme, die man zu Weihnachten in den Straßen sieht. Doch die Umherziehenden sind keineswegs nur KreolInnen, sondern gehören auch anderen Volksgruppen an.
In den Nächten von Weihnachten bis Neujahr wird ein Boot von Haus zu Haus getragen oder gezogen. Es besteht aus weißem Papier mit Scherenschnittmuster, das über einen Holzrahmen gespannt ist. Durch die kleinen Fenster aus buntem Seidenpapier dringt aus dem Inneren das Licht von Glühbirnen. „Fanal“ werden diese in wochenlanger Kleinstarbeit gebastelten Bootskonstruktionen genannt, die nach dem letzten Umzug einem hoffentlich großzügigen Spender übergeben werden.
Dem Tischler und Fanalkünstler Pa Badu Faal zufolge ist diese Tradition von den Laternen inspiriert, mit denen die ersten europäischen SiedlerInnen zur Kirche gingen, sowie von den Schiffen, mit denen sie nach Afrika kamen.
Weihnachten ist auch in den Schulen präsent, sofern sie nicht muslimisch sind. Die meisten Schulen sind christlich geprägt. Sie gehen auf Missionsschulen zurück oder werden nach wie vor von Missionen finanziert, in Unterricht und Verwaltung sind hauptsächlich ChristInnen tätig. Besucht werden sie jedoch mehrheitlich von muslimischen Kindern.
Im Hof der protestantischen Wesley Primary School verfolgen die Gäste von ihren roten Plastikstühlen aus das Programm, das vom Wettbewerb der Krippenspiele dominiert wird. Christliche und muslimische SchülerInnen spielen Jesus und Maria auf Herbergsuche. Sie spielen Engel, HirtInnen, Könige und Esel und sprechen ihren Text in ein Mikrofon. Wartezeiten werden mit dem Singen von Weihnachtsliedern in Englisch und Wolof überbrückt. Nach dem Fest geht es in die zwei Wochen dauernden Weihnachtsferien.
Wie hier in den Schulen und so wie in den Straßen wird Weihnachten auch im Privaten von ChristInnen und MuslimInnen gemeinsam gefeiert. Christliche Familien laden ihre muslimischen Verwandten, FreundInnen oder NachbarInnen ein, mit ihnen zu essen, zu trinken, Musik zu hören und zu tanzen.
Denn Weihnachten ist in Gambia ein lautes, fröhliches, ausgelassenes Fest, bei dem man es mit der Religionszugehörigkeit nicht so genau nimmt.