Frieden zum Greifen

Von Sangeeta Lama und Robert Lessmann · · 2007/06

Ende April war es ein Jahr her, dass ein Volksaufstand in Nepal den König entmachtete und ein halbes Jahr, dass ein Friedensvertrag den elfjährigen Bürgerkrieg beendete. Doch der Weg zu einem dauerhaften Frieden ist noch weit. Die für Juni angesetzte Wahl zu einer verfassunggebenden Versammlung wurde aus organisatorischen Gründen verschoben.

Am 24. April feierte Nepal den Democracy Day. Premierminister Girija Prasad Koirala rief zu gemeinsamen Anstrengungen in Gedenken an die Märtyrer des Aufstands vor einem Jahr auf. Mit einer Welle von Streiks, Straßenblockaden und Demonstrationen vom 6. bis 24. April 2006 hatten die Nepali den König entmachtet und die Demokratie zurückerobert. Am 28. April war das Parlament wieder eingesetzt worden, das König Gyanendra zusammen mit der Regierung von Premierminister Sher Bahadur Deuba am 1. Februar 2005 wegen „Unfähigkeit“ entlassen hatte.
Die Politik der harten Hand Gyanendras gegen die maoistischen Rebellen („Maos“) hatte zunächst durchaus Zustimmung gefunden, aber rasch zu einer Eskalation des Bürgerkriegs, zu noch mehr Blutvergießen und Menschenrechtsverletzungen, aber nicht zu einem militärischen Erfolg geführt. Eine Vereinbarung der sieben entlassenen Parlamentsparteien und der Maos hatte Ende 2005 den Grundstein für die Massenproteste gelegt. Als am 21. April 2006 200.000 Menschen in der Hauptstadt Kathmandu für die Absetzung des Königs demonstrierten, befolgte die Armee den königlichen Schießbefehl nicht. Das politische Schicksal Gyanendras war besiegelt.
Eine am 8. Jänner dieses Jahres verkündete Interimsverfassung entzog dem König die Kontrolle über das Militär. Der Besitz des Königshauses wurde in eine Stiftung überführt. Das Privatvermögen durfte Gyanendra behalten, aber er muss es nun versteuern. Die Menschen atmeten auf: Elf Jahre „Volkskrieg“ hatten 13.000 Todesopfer gefordert und mehr als 100.000 Binnenflüchtlinge hinterlassen. Seit Jänner sitzen 73 Maos im 330-köpfigen Interimsparlament, seit April bekleiden sie fünf Ministerposten der Interimsregierung.

Der Entwaffnungsprozess ist abgeschlossen, doch wurden nach kritischen Schätzungen nur zehn Prozent der Waffen tatsächlich abgegeben. 30.000 KämpferInnen stehen in sieben verschiedenen „Quartieren“ im ganzen Land unter UN-Aufsicht. Zum 1. Mai drohte Maoistenchef „Genosse Prachanda“ wieder einmal mit neuen Aufständen, falls das Interimsparlament nicht umgehend die Republik ausriefe. Die traditionellen Parteien beharren jedoch darauf, dass dies laut Artikel 159 der Interimsverfassung der Verfassunggebenden Versammlung vorbehalten sei, die im Juni gewählt werden sollte. Doch die Wahlkommission hatte bereits Ende April erklärt, dass dieser Termin aus technischen Gründen nicht zu halten sei. „Die Interimsregierung war bisher weder fähig, einen neuen Termin zu benennen, noch Autorität zu erlangen und die Sicherheit der Gesellschaft zu gewährleisten“, kritisiert Dev Raj Dahal, Vertreter der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung in Kathmandu. Die politische Situation beschreibt er als zunehmend „volatil und konfus“. Es wird immer deutlicher, dass die Abneigung gegen diesen König (wohl gar nicht unbedingt gegen die Monarchie schlechthin) das einzige einigende Band zwischen den nunmehr acht Parlamentsparteien war, deren Allianz zunehmend bröckelt.
Die Maos misstrauen den als korrupt und unfähig verschrieenen Altparteien und werfen ihnen Verzögerungstaktik vor mit dem Ziel, den Wandel zu verhindern. Diese kontern, die Maos würden sich nicht an das Friedensabkommen halten, weiterhin Waffen tragen, missliebige Personen entführen, illegale Abgaben einheben und Land konfiszieren.
Gleichzeitig fordert die Volksgruppe der Madhesi im südlichen Grenzgebiet zu Indien in einem teilweise blutigen Aufstand Autonomie, zumindest aber die Durchführung einer Volkszählung vor den Wahlen. Sie befürchten, dass sie unterrepräsentiert würden, weil viele gar nicht registriert sind.

Der Streit um die Zukunft des Königs und um (teilweise durchaus wichtige) Verfahrensfragen hat Verwirrung geschaffen und inhaltliche Fragen über die Zukunft des Landes überlagert. Er verzögert den Friedensprozess und schafft Spielraum für seine Gegner. Im Falle seines Scheiterns ist sogar ein Wiedererstarken des Königs aus der Asche eines neuen bewaffneten Konflikts denkbar. Die dauerhafte Sicherung des Friedens durch Beseitigung der Bürgerkriegsursachen, krasser Unterentwicklung und sozialer Ungleichheit, Diskriminierung weiter Teile der Bevölkerung und ganzer Volksgruppen, stellt die eigentliche Herausforderung dar – jenseits der aktuellen Machtfrage.
Eine Herkules-Aufgabe: 70 Prozent der Bevölkerung des zerklüfteten Himalayalandes sprechen 125 verschiedene Sprachen und Dialekte und hatten bisher so gut wie keine Stimme in den Entscheidungsgremien der wichtigen politischen Parteien und staatlichen Institutionen. Wenige Angehörige alter Herrscherdynastien und hoher Hindu-Kasten wie der Rana, Shah, Thakuri, Brahmanen und Chhetri haben bisher die Geschicke des Landes bestimmt – und es waren praktisch ausschließlich Männer.

Das Verfassungsprojekt könnte scheitern und ein neuer Konflikt ausbrechen, wenn die Anliegen der indigenen Völker, der Dalits (der so genannten Unberührbaren) und der Frauen weiterhin nicht berücksichtigt werden. Die Herausforderung beginnt bereits mit ihrer angemessenen Beteiligung am Verfassungsprozess. Bisher waren die Maos die Einzigen, die sich dieser Anliegen angenommen und vor einigen Jahren sogar die Einrichtung von neun autonomen ethnischen Regionen vorgeschlagen hatten. Doch seit dem Beginn des Friedensprozesses haben die Angehörigen indigener Völker, der Dalits und Marginalisierten den Eindruck, dass ihre Anliegen fallen gelassen wurden und auf allen Seiten nur noch eine Logik der politischen Macht herrscht. Bereits in der Interimsverfassung vom Jänner wurden sie nicht mehr berücksichtigt. Om Gurung, Generalsekretär der Nepal Federation of Indigenous Nationalities (NEFIN), unterstreicht die aktive Rolle der Indigenen in der demokratischen Bewegung: „Doch so bald wir unsere Rechte fordern, werden wir als Gegner der Demokratie bezeichnet“, beklagt er. Weder im Friedensabkommen noch in der Interimsverfassung seien ihre Forderungen berücksichtigt worden.
Ähnliches gilt für die Dalits und insgesamt für Frauen. Sie kämpfen neben sozialer und ethnischer Diskriminierung auch gegen patriarchale Strukturen; ihre Beteiligung in der Politik ist mit fünf Prozent die niedrigste in ganz Asien. Unter internationalem Druck sollte eine 33-prozentige Frauenquote eingeführt werden. Doch die Männergesellschaft zeigte sich resistent – und die Kommission zur Erarbeitung eines Verfassungsentwurfs bestand zunächst wieder ausschließlich aus Männern. Erst nach massiven Frauenprotesten wurden schließlich doch vier Frauen nominiert.
NEFIN forderte vergeblich das Prinzip einer Proporzvertretung in der Verfassunggebenden Versammlung. Gemäß dem Friedensabkommen werden von deren 425 Mitgliedern 205 per Mehrheitswahlrecht aus den bestehenden Wahlkreisen direkt gewählt, weitere 204 über die Parteilisten; das Interimskabinett wird die verbleibenden 16 nominieren.

Die größte Schwäche des derzeitigen Verhandlungsprozesses ist es, dass er stark Eliten-zentriert ist, weitgehend hinter verschlossenen Türen stattfindet und eine Beteiligung der Bevölkerung verhindert wird. Das gilt auch für die Maos, deren Führer großteils Brahmanen sind. Es ist richtig, im aktuellen machtpolitischen Konflikt einen politischen Raum für die Maos zu schaffen, doch wäre es auch wichtig, den Verfassungsprozess in die Gesellschaft hinein zu tragen, die Öffentlichkeit aufzuklären und die Zivilgesellschaft einzubinden. Es gibt Unterstützung für den Friedens- und Verfassungsprozess durch die internationale Gemeinschaft unter Federführung der UNO. Einzig die US-Regierung erweist sich mit ihrer Ankündigung, keine Regierungsressorts unterstützen zu wollen, die von Maoisten geführt werden, als Geisterfahrer. Für Washington gelten die Maos weiterhin als Terroristen.
Die große Stärke des Prozesses liegt hingegen darin, dass er weitgehend hausgemacht ist, im Lande selbst entwickelt wurde. Das erleichtert eine Rückkehr in zivile politische Strukturen. Ein Nachteil besteht sicherlich im Mangel an Legitimität der Altparteien, der ja bereits dazu geführt hatte, dass der „Selbstputsch“ des Königs im Jahr 2005 von weiten Teilen der Bevölkerung zunächst durchaus wohlwollend akzeptiert worden war. Der greise Premier Koirala, der derzeit die Amtsgeschäfte von zu Hause aus führt, hatte dieses Amt in den 14 Jahren Demokratie von 1990 bis 2004 bereits drei Mal inne. Doch ein geeigneterer Kandidat fand sich nicht. Knapp anderthalb Jahrzehnte Demokratie sind in der Erinnerung der Menschen geprägt von Instabilität, von raschen Regierungswechseln und Kabinettsumbildungen, von Machtspielchen zur Übervorteilung und Ausschaltung politischer Gegner. „3M – money, muscle, mafia“, so sagt man, prägten das Justizsystem, das weitgehend feudalen Strukturen verpflichtet war.

Am Beginn des Friedensprozesses vor einem Jahr hatte Kanak Mani Dixit, Herausgeber des renommierten Magazins Himal South Asia, prophezeit: „Das Dezibel-Niveau wird hoch sein, doch anstatt Gewehrfeuer werden wir nun Diskussionen hören.“ Dass heute die Waffen schweigen, ist nach einem Jahrzehnt brutalen Bürgerkriegs bereits ein großer Fortschritt. Internationale Beispiele von Verfassungsprozessen zeigen, dass Schnellschüsse und enge Zeithorizonte bei einem solchen Projekt selten hilfreich sind. Selbst in Österreich, unter den Bedingungen einer stabilen Demokratie, arbeitet seit drei Jahren ein Verfassungskonvent – der mangels greifbarer Ergebnisse bereits aus dem Gedächtnis der meisten Menschen gelöscht ist. Nepal hat also trotz aller Schwierigkeiten weiterhin Grund, mit Optimismus in die Zukunft zu blicken.

Sangeeta Lama ist Redakteurin bei der nepalesischen Monatszeitschrift Haka-haki und Generalsekr. des Forums für UmweltjournalistInnen Nepals. Robert Lessmann ist freier Mitarbeiter des Südwind und kennt Nepal von zahlreichen Aufenthalten.

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