Friede den Hütten und Palästen

Von Nora Holzmann · · 2012/11

Mehr als sechs Millionen Menschen leben in Rio de Janeiro – fast ein Viertel von ihnen in Favelas, über die der Staat Brasilien die Kontrolle weitestgehend verloren hatte. Jetzt holt er sie sich zurück, in kleinen Schritten.

Dem jungen Mann hängt die Kalaschnikow lässig um die Schulter. Ein anderer trägt die Pistole im Bund seiner Surferhose. Sie lehnen an der Hausmauer, scherzen mit ein paar Freunden. Einige Schritte entfernt, an der Straße neben einem Restaurant, steht ein kleines Tischchen. Dort sitzt ein Bursche, umgeben von der Aura eines Buchhalters. Konzentriert zählt und ordnet er Geld, die Kokainpäckchen hält er gut verborgen. Rundherum brausen Motorradtaxis vorbei, gehen Leute zur Bank oder erledigen ihre Einkäufe, spazieren Kinder von der Schule nach Hause.

Ein Bild der Vergangenheit. Bis vor kurzem hatte der bewaffnete Drogenhandel die Rocinha, eine der größten Favelas Rio de Janeiros, fest im Griff. Niemanden wunderte es, in dem Stadtviertel, in dem immerhin geschätzte 250.000 Menschen leben, keinen einzigen Polizisten anzutreffen.

Der, der die Regeln bestimmte, praktisch alle BewohnerInnen „seiner“ Favela Rocinha zum Schweigen verpflichtete und die besten Partys schmiss, war der Drogenboss Nem. Doch seit einem Jahr sitzt Nem im Gefängnis, und etwa 700 PolizistInnen patrouillieren durch die verwinkelten Straßen der Favela. Sie gehören zur Befriedungseinheit der Polizei von Rio de Janeiro. Die „Unidade de Polícia Pacificadora“, kurz UPP, ist ein Projekt des Sekretariats für Öffentliche Sicherheit des Bundesstaates Rio de Janeiro. Seit dem Start 2009 wurden in Rio knapp 30 UPP-Stützpunkte eingerichtet, der jüngste in der Rocinha. Ihr Zweck ist es, Favelas, die von kriminellen Banden dominiert sind, territorial zurückzuerobern und die bewaffnete Gewalt zu beenden.

Die Strategie: Eine Spezialeinheit stürmt die Favela. Meist geschieht dies angekündigt, um gewaltsame Auseinandersetzungen zu vermeiden. Danach wird eine dauerhafte Befriedungseinheit installiert. Deren Polizeipersonal ist speziell geschult, um deeskalierend und vermittelnd agieren zu können. Hat dann die Polizei die Gegend wieder unter staatliche Kontrolle gebracht, sollen vermehrt öffentliche und private Investitionen in den Stadtteil fließen. Und vor allem: Die BewohnerInnen sollen sich sicherer fühlen. Viele tun das auch. Marcelo Mendes wohnt seit seiner Geburt in der Rocinha, im Moment ist er auf Arbeitssuche. Er sagt:„Ich bin froh, dass die bewaffneten Gangster von der Straße verschwunden sind. Jetzt traue ich mich nachts wieder aus dem Haus.“

Den politisch Verantwortlichen geht es allerdings nicht nur um jene, die schon seit vielen Jahren Angst haben, vor ihrem Haus von einer verirrten Kugel getroffen zu werden. Es geht ihnen um das Image ihrer Stadt – der Stadt, die zum wichtigsten Austragungsort der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spiele 2016 auserkoren wurde. Denn die Wege jedes Rio-Besuchers und jeder Besucherin sind von Favelas gesäumt. Zwischen Zuckerhut und Christusstatue, neben dem Fußballstadion Maracanã und hinter den Stränden der wohlhabenden Stadtteile Copacabana, Ipanema und Leblon – überall klettern die Hütten der oft illegalen Siedlungen die Hügel empor. Ihre Anzahl kann keiner genau bestimmen, häufig hört man, es seien etwa 1.000. Die Angst vor der Gewalt in den Favelas saß lange auch den EinwohnerInnen der reichen, am Strand gelegenen Südzone im Nacken. Nur allzu leicht konnte man auf einer Fahrt ins Shopping Center oder zum Flughafen in die Frontlinien geraten. Es herrschte Krieg: zwischen Drogenbanden, privaten Milizen und der Polizei, die durch brutale Erstürmungen von Favelas noch mehr Öl ins Feuer goss. Allein zwischen 2003 und 2010 starben in Rio de Janeiro über 8.700 Menschen im Zuge von Polizeieinsätzen. Zudem war Korruption im Sicherheitsapparat der Stadt fest verwurzelt.

Rio sei weit davon entfernt, all dies im Griff zu haben, sagt der Soziologe Ignácio Cano, der im Mai die erste umfangreiche Studie zu den Auswirkungen der UPPs veröffentlicht hat. Aber deren Strategie stelle eine Gelegenheit dar, die Sicherheitspolitik zu entmilitarisieren. Erfolge bringt sie jedenfalls: Laut seiner Studie gibt es in den befriedeten Favelas kaum mehr tödliche Gewalt. Dafür gebe es mehr Anzeigen wegen anderer Delikte, weil die BewohnerInnen beginnen würden, sich als Teil des Rechtsstaates zu empfinden.

Der Soziologe aber traut dem Frieden noch nicht so ganz. Gegenüber dem Südwind-Magazin meint Ignácio Cano: „Die Nachhaltigkeit der Initiative hängt davon ab, wie sehr sich die Sicherheitspolitik insgesamt von der Idee der Befriedung inspirieren lässt.“ Im Polizeiapparat würden die UPPs und ihre Strategie nur geringes Ansehen genießen. Im schlimmsten Fall stünde man 2016 – nach den sportlichen Großereignissen – wieder am Anfang.

Oberst Rogério Seabra koordiniert die Befriedungseinheiten. Er ist sich seiner Sache sicher. „Der Prozess ist unumkehrbar“, sagte er vor einiger Zeit gegenüber dem Fernsehsender Globo. „Wir bleiben in den Favelas, und wir bauen die UPPs weiter aus.“ Die meisten BewohnerInnen Rios begrüßen dies. Viele hoffen, dass sich die künftige Auswahl der Favelas am Ausmaß der dort vorherrschenden Gewalt orientiert, nicht danach, wie nahe die Villen der Reichen oder die Anziehungspunkte für TouristInnen liegen. Böse Zungen meinen, dies wären momentan die Hauptkriterien, nach denen entschieden werde.

Tatsache ist, dass sich das Leben vieler Menschen – besonders in den Favelas der reichen Südzone – verbessert. Die Häuschen auf den erdigen Hügeln und die Hochhäuser am glatten Asphalt sind näher zusammengerückt. Immer mehr Menschen überschreiten die unsichtbare Grenze zwischen reichen und armen Stadtvierteln, und zwar in jene Richtung, die noch vor kurzem unüblich war.

So mancher Gast aus Europa lässt sich nicht in einem Hotel an der Copacabana, sondern in der Pension von Lígia in der nahe gelegenen Favela Cantagalo nieder. Das gut situierte Partyvolk pilgert auf den Hügel der Favela Vidigal, von dem aus man die beste Aussicht über Rio genießt. Und Handelsketten eröffnen Niederlassungen in der Rocinha, durch die von Tag zu Tag mehr TouristInnengruppen geschleust werden. Einige Favelas sind wegen ihrer Lage so beliebt, dass anstelle von Banden bereits Immobilien-Spekulanten das Gebiet umkämpfen. Der Drogenhandel geht auch in den befriedeten Favelas weiter. Die Banden agieren hinter den Kulissen. Auch in der Rocinha sollen, so berichten BloggerInnen im Internet, wieder Grabenkämpfe zwischen Gangs begonnen haben. Aber mit dem alten Zustand eines Parallelstaats inmitten der Stadt hat dies nichts mehr zu tun.

Mit der Befriedung einiger Favelas hat die Megastadt zumindest einen Anfang gemacht. Sie ist das Riesenproblem der ausufernden Gewalt und der Aufsplitterung der Stadt in verfeindete Terrains angegangen. Ihre Strategie braucht viel Personal und Geld. Sie bietet aber große Chancen und gibt Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben und die Wahrung der Bürgerrechte jedes Einzelnen.

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