Diesmal führt meine gewöhnliche Methode, mir über etwas klarer zu werden, worüber die Klassiker der Philosophie schweigen, zu nichts – weder meine Wörterbücher noch das Internet geben mir brauchbare Hinweise darauf, wie ich die einfache Frage einfach beantworten könnte: Was bedeutet Freizeit bei uns?
Aus den über sieben Millionen Internetseiten, die ich auf der Suche nach „Freizeit“ finde, kann ich ebenso wenig klug werden wie aus den immerhin noch fast zwei Millionen, die allein aus Österreich kommen. Nicht anders ist es mit dem englischen „leisure“ oder den französischen „loisirs“. Überall sind Aktivitäten das Thema, die nicht viel mehr miteinander gemeinsam haben, als dass jene, die sie ausüben, damit nicht ihren Lebensunterhalt verdienen. Ansonsten aber verweisen diese Seiten auf eine Art von Markt, der vielfältigste Mittel bereitstellt, um jede Zeit zu vertreiben.
Die Wörterbücher wiederum kennen eine Menge von einschlägigen Zusammensetzungen (Freizeitkleidung, –parks usw.). Es ist nicht nur ein Markt zur Gestaltung von Freizeit verfügbar, es handelt sich um einen eigenen Wirtschaftszweig mit einer ungleichen Verteilung auf dem Globus. Es gibt Länder und Regionen, die dafür nur Zulieferdienste oder Reiseziele darstellen. Schon wenn ich im Internet nach den portugiesischen Entsprechungen für „Freizeit“ suche, so bringt mir das nur einige hundert Seiten, obwohl wesentlich mehr Menschen Portugiesisch sprechen als Deutsch. Auf Spanisch geht es nicht besser und in einer afrikanischen Sprache versuche ich es erst gar nicht. Ich würde Freizeitangebote aus Kenia oder Mosambik wohl finden, aber auf Deutsch oder Englisch und vielleicht auf Japanisch; User, die nur Schona oder Luo sprechen, sind nicht das Zielpublikum.
Der Marktplatz ist nicht nur ungleich verteilt, sondern es gibt ihn für viele gar nicht. „Wieviel Freizeit haben die Menschen?“ fragt sich Robert Levine (Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen. 1998): „Haben sie Urlaub? Wie sieht die Verteilung von harter Arbeit und Muße aus?“ Und er stellt fest: „In diesen Bereichen unterscheidet sich Westeuropa auch heute noch stark von den Vereinigten Staaten und noch mehr von Japan.“
Bleiben wir bei der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes, wonach „Freizeit“ diejenige Zeit bezeichnet, über die jemand unabhängig von beruflichen Verpflichtungen verfügt, so lassen sich leicht Paradoxien beschreiben. Einerseits ist die durchschnittliche Zahl der wöchentlichen Arbeitsstunden in vielen Industrieländern zurückgegangen, was rein rechnerisch die freie Zeit arbeitender Menschen vermehrt hat. Andererseits verlangt der auf Freizeit in diesem Sinn bezogene Markt gebieterisch, dass sie gestaltet wird.
Auch für den steigenden Anteil von alten Menschen, die nicht mehr im Arbeitsprozess stehen, hat der große Markt „Freizeit“ alle möglichen Angebote. Es ist darum zwar absurd, aber nicht überraschend, wenn Menschen selbst mit viel oder sogar hundert Prozent „Freizeit“ doch darüber klagen können, „keine Zeit“ zu haben. „Es ist eine der großen Ironien der Moderne,“ sagt Levine im selben Buch, „daß wir trotz all unserer zeitsparenden Erfindungen heute weniger Zeit für uns selbst haben als je zuvor“.
Es bleibt vielleicht ein anderer Weg als das bloße Messen von „freier Zeit“, sich über dieses Wort und dessen Bedeutung etwas Klarheit zu verschaffen. Er könnte darin bestehen, ein wenig darüber nachzudenken, was „Freizeit“ heißt, wenn damit weniger eine frei verfügbare, also nicht durch Berufsarbeit gebundene „Zeit“ gemeint ist, sondern „Zeit“, die jemanden frei macht. Mit anderen Worten: Fragen wir nach der „Freizeit“, sofern sie jemanden frei macht und nicht nur, sofern sie frei verfügbar ist. Das sollte doch Sinn machen, wenn die Benennung einer Zeit als „frei“ kein sprachlicher Lapsus ist.
Denken wir an Freizeit in diesem Sinn, so drängen sich einige Fragen auf: Wovon sind wir frei? Wofür sind wir frei? Sind wir schlechterdings frei? Was bedeutet unser Freisein für andere? Es sind die alten Themen der Philosophie mit Bezug auf Handlungsfreiheit, nach innerer Freiheit, Willensfreiheit und politischer Freiheit. Alle diese Aspekte haben mit Zeit zu tun außer der Freiheit des Willens – der Frage, ob ich anders wollen kann als ich will. Dies ist ein metaphysisches Problem und, wenn überhaupt, ohne Bezug auf eine zeitliche Dimension zu denken.
In meinem Handeln bin ich frei, wenn ich tun kann, was ich will. Das kann immer mehr oder weniger der Fall sein, und die verfügbare Zeit ist nur ein Faktor unter mehreren, die da zählen. Das jeweilige Maß meiner Handlungsfreiheit ist durch natürliche wie durch gesellschaftliche und persönliche Bedingungen gegeben. Der Handlungsspielraum aufgrund natürlicher Bedingungen – dass ich nicht wie eine Blume blühen kann, auch wenn ich möchte – wird durch den Organisationsgrad meiner Gesellschaft, aber auch durch den Stand von Wissenschaft und Technik erweitert oder beschränkt. Ich kann etwa über ein Wochenende nach Marokko fahren, was meinem Großvater nicht möglich gewesen wäre, auch wenn er es gewollt hätte. Die persönlich-individuellen Bedingungen von Handlungsfreiheit sind durch Erziehung, vorherrschende Wertvorstellungen, durch psychische und physische Entwicklung gegeben.
Wenn ich freie Zeit habe, um zu tun, was ich will, so bedeutet das also doch nicht, dass ich ganz unabhängig bin – die frei verfügbare Zeit verschafft mir nur eine von mehreren Bedingungen. Sie stellt aber selbst auch eine Anforderung dar, denn sonst gäbe es nicht Millionen von Internetseiten, von allen anderen Werbemedien abgesehen, die mir dringlich nahe legen, meine freie Zeit auf die eine oder andere Weise zu gestalten. Weil wir damit manipulierbar sind in dem, was wir wollen, müssen wir über den Begriff der Handlungsfreiheit hinausgehen, der immer nur im Verhältnis zu einem bestimmten Wollen zu sehen ist, und müssen uns fragen, ob die Bildung dieses Wollens selbst noch einmal zur Freiheit oder Unfreiheit einer menschlichen Person in Beziehung gesetzt werden kann.
Innerlich bin ich frei, wenn ich tue, was mich selbst weiterbringt. Unter „innerer Freiheit“ verstehen wir also das Freisein einer Person als Selbstbestimmung. Braucht es eine bestimmte „Zeit“ dazu? Wäre es denkbar, dass jemand ganz ohne „Freizeit“ doch innerlich frei und selbstbestimmt ist? Könnte ein Workaholic, der sich in seiner Tätigkeit ganz verwirklicht, in Wahrheit immer nur „Freizeit“, also Zeit haben, die ihn frei macht? Das ist nicht auszuschließen.
Die entscheidende Frage hier ist nicht, wie viel Zeit jemand mit der einen oder anderen Tätigkeit oder Beschäftigung verbringt, sondern lediglich, ob er damit dasjenige Ziel verfolgt, von dem er weiß, dass es sein eigenes ist. Man muss das nicht unbedingt nur als eine egoistische Sache oder als zwanghaft verstehen.
Er könnte in der gleichen Absicht der Selbstverwirklichung auch gar nichts anderes tun als den Fischen beim Schwimmen zusehen. Ich habe die Geschichte aus verschiedenen Weltregionen gehört: Ein Mann sitzt da im Schatten eines Baumes und sieht den ganzen Tag den Fischen zu. Der Tourist kommt und sagt ihm, dass er seine Zeit vergeudet, er könnte arbeiten, sich ein Haus bauen, Reserven anlegen und dann reisen an die schönsten Strände der Welt und das Leben genießen. Das tue ich doch schon, sagt der Mann zu dem Touristen in den verschiedenen Versionen der Geschichte. Wozu soll ich zuerst noch all das Andere tun?
Damit bliebe natürlich noch einiges offen: Wer besorgt ihm, was er doch braucht? Wer kocht für ihn? Die eigene Freiheit, auch die innere, steht doch immer im Verhältnis zur Freiheit und zur Freizeit anderer Menschen. Damit sind wir bei der politischen Frage nach Maßstäben für individuelle Freizeit-Freiheit. Und dazu kann wohl immer noch John Stuart Mill zitiert werden: „Der einzige Zweck, der die Menschen, individuell oder kollektiv, berechtigt, in die Handlungsfreiheit eines der ihren einzugreifen, ist Selbstschutz.“ (In: Über die Freiheit, 1974.) Daraus folgt, dass die Freizeit der Einen nicht auf Kosten der Freiheit Anderer gehen darf.
Das neueste Buch des Autors: „Interkulturelle Philosophie“. Eine Einführung, UTB 2470, Facultas Verlags- und Buchhandels AG WUV, Wien 2004, 263 Seiten, EUR 21,50