Sechs Jahre nach dem Beginn seiner ersten Amtszeit und zwei Jahre nach seiner Wiederwahl mit fulminanten 64 Prozent ist Boliviens Präsident Evo Morales mit seiner „Regierung der sozialen Bewegungen“ zunehmender Kritik ausgesetzt.
Der Bauzaun auf der Plaza San Francisco von La Paz erinnert noch an die indigenen DemonstrantInnen, die sich nach wochenlangem Marsch im Oktober dort versammelt hatten, um gegen den geplanten Straßenbau „Tipnis“ durch ihr Schutzgebiet zu protestieren: „Evo, no estás sólo. Estás rodeado de llunk’us“, heißt es da. Eine wenig schmeichelhafte Warnung an den Hoffnungsträger der Linken und der Indigenen: „Evo, du bist nicht allein, sondern von Speichelleckern umgeben.“ Schon als der Marsch noch unterwegs war, hatten seine Anführer nicht mit den zuständigen Ministern verhandeln wollen, sondern nur mit dem Präsidenten selbst – oder dem Außenminister, David Choquehuanca, weil der auch Indígena ist.
Der Protestmarsch war blockiert von einem Gegenmarsch von Indígenas und Bäuerinnen und Bauern (die sich illegal im Schutzgebiet niedergelassen haben), die für den Straßenbau eintreten. Dazwischen die Polizei, die den Marsch der StraßengegnerInnen am 25. September gewaltsam auflöste, nachdem diese den Außenminister für vier Stunden entführt hatten. Heute will niemand diesen Einsatz angeordnet haben. Die Umstände werden untersucht. Mehrere Minister traten aus Protest zurück, Morales entschuldigte sich für das Vorgehen der Polizei. Der Protestmarsch durfte weiter gehen und der Präsident stoppte den umstrittenen Straßenbau per Dekret. Vorläufig. Denn nun wird verhandelt. Endlich.
Für Nardi Suxo ist die Sache klar: „Der Marsch war politisch motiviert. Die wollten als Helden in La Paz einmarschieren“, sagt die Ministerin für Korruptionsbekämpfung und Transparenz (siehe auch Interview in SWM 10/2010) im Gespräch mit dem Autor. „Und das ist ihnen auch gelungen.“ AnhängerInnen der Regierung machen wahlweise Exilkreise aus den USA, die US-Botschaft und die Opposition für den Marsch verantwortlich – und es wäre in der Tat erstaunlich, wenn die parteipolitisch nach einer Serie von Wahlniederlagen völlig desolate Rechte im Lande nicht jede Gelegenheit nutzen würde, Kapital aus einer Schwächung der Regierung zu schlagen. Doch dass es überhaupt so weit gekommen ist, hat sich diese selbst zuzuschreiben.
Die von ihr mit durchgesetzte neue Verfassung vom Jänner 2009 ist weltweit wohl die weitestgehende, was den Schutz von Indígena-Rechten betrifft. Doch die bei solchen Projekten vorgeschriebene „vorherige Konsultation“ der Betroffenen war ausgeblieben. Stattdessen hatte man versucht, die Sache „nach Gutsherrenart“ durchzuziehen. Es gibt seit Jahren bestehende Verträge mit einer brasilianischen Baufirma, und Brasilien soll auch 332 der 415 Millionen US-Dollar Baukosten mit Krediten abdecken. Der Vizeminister zur „Koordination der sozialen Bewegungen“, über den die Regierung verfügt, war in der ganzen Sache nicht in Erscheinung getreten. Und hier schließt sich der Kreis: Die Regierung Morales versammelt großen Sachverstand und Erfahrung im politischen Kampf, aber wenig in der Verwaltung, beim Regieren. Die großen Schlachten um die Verstaatlichung der fossilen Brennstoffe und die neue Verfassung sind aber geschlagen. Allein die Umsetzung der Landreform wäre noch so ein „politisches“ Großthema. Wenn man aber tagespolitische Angelegenheiten, wie den Protest gegen ein Straßenprojekt, primär mit der Logik des politischen Kampfes betrachtet und als Störmanöver der Opposition sieht (was durchaus auch der Fall sein mag), dann kann man sich leicht selbst ein Bein stellen.
Aber auch umgekehrt bei der Konfliktvermeidung durch Aussitzen. Anlässlich der Präsentation des Budgets für 2012 kündigte der Vizepräsident soeben an, dass die Treibstoffsubventionen auch in diesem Jahr aufrecht bleiben. Deren Aufhebung hatte in den Tagen zwischen Weihnachten und dem Jahreswechsel 2010/11 zu Preiserhöhungen und den ersten Massenprotesten gegen die Regierung Morales geführt, die die Maßnahme dann auch wieder zurücknahm. „Mandar obedeciendo“, dem Volk gehorchend wolle er regieren, sagte der Präsident – ganz gütiger Landesvater. Bisher klappt dieses Vorgehen, denn während Minister so häufig wechseln wie das Wetter in den Hochanden, bleibt das Image des Präsidenten selbst noch relativ intakt. Die Betonung liegt auf relativ und auf noch.
Bolivien erzielt mehr als die Hälfte seiner Exporteinnahmen aus der Ausfuhr von Erdöl und Erdgas. Wichtigster Abnehmer ist Brasilien. Für 2011 sind Rekordexporte von neun Milliarden US-Dollar prognostiziert. Die Treibstoffsubventionen sollen im kommenden Jahr 755 Mio. US-Dollar kosten, was dazu führt, dass billiges Gas und Diesel in die Nachbarländer geschmuggelt wird und auf dem Binnenmarkt knapp ist.
Dabei kann sich die Bilanz von sechs Regierungsjahren Morales durchaus sehen lassen: Dank hoher Rohstoffpreise steht die Exportwirtschaft gut da – und die Verstaatlichung der fossilen Brennstoffe hat dafür gesorgt, dass diese Einnahmen in die Staatskasse fließen. Chronische Haushaltsdefizite konnten beseitigt, die Abhängigkeit von Auslandshilfe vermindert und die Verschuldung mehr als halbiert werden. Zudem steht Geld für den Ausbau des Schulbereichs und der Gesundheitsinfrastruktur zur Verfügung. Bereits nach zwei Jahren konnte man die Beseitigung des Analphabetismus feiern. Der Mindestlohn wurde mehrfach angehoben, eine Mindestpension eingeführt. Eine Schuljahresabschlussprämie und ein Mutter-und-Kind-Bonus verbinden Sozialpolitik mit bildungs- und gesundheitspolitischen Steuerungselementen.
Mit der neuen Verfassung vom Jänner 2009 wurde Bolivien als plurinationaler Staat definiert. Sie gilt in vielen Bereichen als beispielgebend. Doch nach dem erfolgreichen Abschluss der politischen Großprojekte wollen die Bolivianerinnen und Bolivianer nun Fortschritte vor allem auch in ihrer Geldbörse sehen. Die hochgradig politisierte erste Amtszeit von Evo Morales von 2006–2009 war von einer Serie von Wahlen und Abstimmungen gekennzeichnet, die der Präsident und seine Partei (MAS) alle mit absoluter Mehrheit gewonnen haben. Wenige Monate nach dem 64%-Sieg bei den vorgezogenen Neuwahlen folgte dann der erste Dämpfer: Bei den Kommunalwahlen im April 2010 konnte man zwar noch immer Zugewinne verbuchen, doch gingen mit La Paz und Oruro zwei vormalige Hochburgen verloren. Und als im Oktober vergangenen Jahres erstmals nach der neuen Verfassung die Obersten Richter und Verfassungsrichter vom Volk gewählt wurden, zog die amorphe Opposition mit ihrem Aufruf, ungültig zu wählen, beinahe gleich: Ein krasser Vertrauensverlust im Zeichen des Straßenbauprojektes „Tipnis“.
Nicht nur diese Krise hat gezeigt, welche Herausforderung man sich mit dem neuen Staatsmodell vorgenommen hat, das die verschiedenen „Nationen“ nicht nur anerkennt, sondern mit der Zentralregierung möglichst gleich stellen will. Es gibt davon 36 in Bolivien, die zum Teil sehr verschieden sind und unterschiedliche Interessen haben. Ähnliches gilt für die „sozialen Bewegungen“, von denen manche in der Vergangenheit auch durch erzkonservative Positionen hervorgetreten sind. Bisher hat man es versäumt, institutionalisierte Mechanismen der Interessenartikulation und Entscheidungsfindung zu schaffen. Von der Einrichtung einer zivilgesellschaftlichen „vierten Gewalt“, wie sie im Verfassungsprozess diskutiert worden war, hat man seither nichts mehr gehört.
Es ist jedoch weit und breit keine tragfähige Alternative zu Evo Morales und seinem Prozess des Wandels in Sicht. Das „Movimiento Sin Miedo“ (MSM, Bewegung ohne Angst) des honorigen und erfolgreichen Ex-Bürgermeisters von La Paz, Juan del Granado, konnte zwar bei den Kommunalwahlen 2010 gewinnen, müsste sich aber als landesweite Kraft erst etablieren. Die gute Nachricht: Es handelt sich nicht um Kräfte der Vergangenheit. Die MSM unterstützt den Prozess des Wandels, will ihn aber – nach eigener Darstellung – besser institutionalisieren und Fehler beseitigen. Die Partei versammelt viele Linksintellektuelle der städtischen Mittelschichten, die von der MAS erfolgreich vergrault wurden. Die aber sind oftmals der indigenen Bevölkerungsmehrheit suspekt, für die nach wie vor „el Evo“ die Integrationsfigur ist.
Südwind-Mitarbeiter Robert Lessmann ist Autor des Buches „Das neue Bolivien“, Rotpunktverlag, Zürich 2010. Er hat Bolivien zuletzt im Oktober/November letzten Jahres besucht.
Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!
Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.
Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.
Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!
Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.