EU-Debatte in der Türkei

Von MaK · · 2005/07

Ein Überblick über Akteure, ihre Interessen und Argumente.

Am 3. Oktober dieses Jahres sollen die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei beginnen. In der Türkei sind es vor allem die Industriellen- und Unternehmerverbände TÜSIAD und MÜSIAD, die eine EU-Mitgliedschaft anstreben. Sie setzen auf eine Liberalisierung des Marktes und verbesserte Exportbedingungen. TÜSIAD (Türkischer Verband der Industriellen und Geschäftsleute) ist die einflussreichste und am längsten etablierte Interessenvertretung türkischer Großunternehmen. MÜSIAD wurde als Zusammenschluss aufstrebender anatolischer Kapitalgruppen 1990 gegründet und steht der liberal-islamischen Regierungspartei AKP nahe.
Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) ist die am stärksten auf einen EU-Beitritt orientierte politische Kraft. Sie hofft über die Allianz mit der EU das kemalistische, bürokratisch-militärische Establishment entmachten zu können. Doch sieht sich Regierungschef Tayyip Erdogan innerhalb der AKP wachsender europapolitischer Skepsis aus dem nationalistischen und dem islamistischen Flügel gegenüber.
Gegen den Beitritt äußern sich vor allem die nationalistischen Rechten und Linken. Trotz unterschiedlicher Hintergründe teilen sie die Auffassung, dass die EU die Eigenstaatlichkeit der Türkischen Republik gefährden würde. Das laizistisch-kemalistische Lager bündelt sich in der Republikanischen Volkspartei (CHP), ihr führender Vertreter ist Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer. Die Kemalisten der sozialdemokratischen CHP bilden die stärkste Partei der parlamentarischen Opposition. Stimmführend im Lager der rechtsnationalistischen EU-GegnerInnen ist die Partei der nationalen Bewegung (MHP). Sie stellt die viertgrößte Fraktion im Parlament.

Die EU-Diskussion werde oberflächlich geführt, kritisiert Mehmet Türkay vom volkswirtschaftlichen Institut der Marmara Universität in Istanbul. Sie werde hauptsächlich über Konzepte der Nation abgehandelt. Was die innertürkische Debatte bisher auslässt, gibt auch Ash Odman von der Bilgi Universität in Istanbul zu bedenken, sind die Interessenlagen im informellen Sektor und in der Landwirtschaft. Von Landwirtschaft wird im Prozess der Türkei-EU-Integration hauptsächlich als „Problem“ gesprochen. Die Geschichtswissenschafterin weist darauf hin, dass damit nahezu die Hälfte der Bevölkerung – zudem mehrheitlich Frauen – kurzerhand zum Problem degradiert wird. Ähnlich verhält es sich mit dem informellen Sektor (s. S. 39-40).
Laut Joachim Becker von der Wirtschaftsuniversität Wien könnten Kleinlandwirtschaft und -gewerbe zu den Verlierern zählen. Diese Gruppen sind in der Frage des EU-Beitritts noch kaum zu Wort gekommen. Becker vermutet, dass EU-skeptische Positionen von nationalistischen Parteien aufgegriffen und instrumentalisiert werden. Integrationsskepsis fände dann – ähnlich wie heute schon in Polen – ihren Ausdruck eher in nationalistischer als in sozialer Form.

Der Artikel fasst Ergebnisse einer in
der Zeitschrift Kurswechsel veröffentlichten Enquete über die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei zusammen. Befragt wurden vorwiegend linke Wirtschafts- und SozialwissenschafterInnen, die eine Stellungnahme zur Türkei-EU-Diskussion abgeben sollten. In Kurswechsel 1/2005, www.kurswechsel.at

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