Eine Begegnung mit Camila Vallejo, Anführerin hunderttausender chilenischer StudentInnen gegen zu teure Bildung, die nun in einer Bewegung gegen das gesamte neoliberale System aktiv ist.
In der Politik entscheiden über Sieg oder Niederlage andere Kriterien als auf dem Sportplatz. Das war eine der Botschaften, die Camila Vallejo aus Chile zu Jahresbeginn in europäische Hörsäle und Gewerkschaftshäuser brachte. Der Andrang war groß, denn 2011 stand Vallejo an der Spitze chilenischer Demonstrationen für eine kostenlose, hochwertige Bildung, die landesweit mehr als eine Million Menschen auf die Straßen brachten. Zwei Bildungsminister mussten zurücktreten. Die Geografiestudentin, die Ende April ihren 24. Geburtstag feiert, wurde zum Star. Für die britische Zeitung The Guardian war sie die „Person des Jahres“ und unter den „Rebellen“ Lateinamerikas diejenige, die seit dem Zapatistenführer Marcos am meisten die Fantasie beflügle. Die deutsche „taz“ feierte sie als „Subcomandante Camila“.
Bei einem Vortrag an der Uni München gestand Vallejo allerdings ein, dass von den Forderungen der Protestbewegung noch fast nichts durchgesetzt worden sei. In Chile existiere noch immer das weitgehend privatisierte Bildungssystem. Studierende müssen die vollen Kosten ihres Studiums selbst bezahlen (was bis zu 40.000 Euro kosten kann). Wer das Geld nicht hat, muss sich (in vielen Fällen samt den Eltern) auf Jahre hinaus verschulden. Durch die Zinszahlungen wird das Studium für Arme noch teurer als für Reiche. Aufgrund der Proteste hat die Regierung des rechten Präsidenten Sebastián Piñera aber nur die Rückzahlungszinsen unwesentlich gesenkt. „Niemand hat danach mit dem Demonstrieren aufgehört“, sagte Vallejo.
Trotzdem empfindet die Protestbewegung keine Niederlage. Während Piñeras Popularität auf ein „historisches Tief“ von 23 Prozent fiel, sprachen sich in Umfragen 80% für die Forderungen der Bewegung aus. „Das Marktmodell gilt im Bildungsbereich als gescheitert. Wir haben in Chile einen kulturellen Wandel erreicht“, verkündete Vallejo, die Vizepräsidentin der Studentenvereinigung FECH.
Außerdem sei die Bewegung in Umfang und Zielsetzung immer breiter geworden. Sie begann schon 2006 mit Protestmärschen von MittelschülerInnen, die „Pingüinazos“ genannt wurden, weil sie in ihren dunklen Schuluniformen wie die Pinguine daherkamen. 2011 schlossen sich viele ArbeiterInnen den Uni-Protesten an, denen in Chile anderswo hochgehaltene Rechte auf Organisation, Streik und Kollektivvertrag vorenthalten werden. Auch UmweltschützerInnen, die gegen Dammbauprojekte in der noch unberührten Natur Patagoniens kämpfen, kamen dazu, ebenso VertreterInnen der Indigenen, vor allem des Mapuche-Volkes im Süden Chiles. Gemeinsam habe man Forderungen entwickelt, mit denen das gesamte, auch im Gesundheitsbereich, im Wohn- und Straßenbau geltende neoliberale System infrage gestellt werde. Darum sei es auch bei dem trotz offiziellen Verbots abgehaltenen zweitägigen Generalstreik im vergangenen Jahr gegangen.
In München erinnerte die mit Vallejo reisende KP-Jugendfunktionärin Karol Cariola daran, dass in Chile von 1973 bis 1990 „eine der blutigsten Diktaturen Lateinamerikas“ geherrscht habe. Damals hatten einige in den USA ausgebildete Wirtschaftsstudenten, die Chicago Boys, sozusagen als Weltpremiere, den Neoliberalismus eingeführt, der sich tief in die politische Kultur des Landes eingegraben habe: Egoismus und Konsumismus seien herausragende Eigenschaften geworden. Nach der Rückkehr zur Demokratie hätte die zwei Jahrzehnte lang regierende „Concertación“ aus Christ- und Sozialdemokraten das die gesellschaftliche Ungleichheit vergrößernde Modell beibehalten.
Inzwischen habe das Volk davon mehr als genug. Künftig wolle man die Chileninnen und Chilenen dafür mobilisieren, einen Staat zu fordern, der – zum Wohl und unter Kontrolle der Allgemeinheit – wieder seine soziale Verantwortung wahrnimmt. „Nach 20 Jahren des Übergangs zur Demokratie, wie das immer genannt wurde, wollen wir jetzt eine echte Demokratie“, sagt Vallejo. Zu den Forderungen gehören eine Steuerreform, ein gerechteres Wahlsystem und eine neue, demokratische Verfassung. Denn die derzeit geltende wurde den Chilenen 1980 aufgezwungen, noch mitten in der Diktatur.
In München wurde Camila Vallejo von einer jungen Journalistin gefragt, ob sie eine Aufmunterung für die deutschen Studierenden hätte, die als „Generation der Meinungslosen“ bezeichnet werden. „Ich war auch einmal Teil dieser Generation, es bestand Hoffnungslosigkeit“. Doch dann hätten die Chilenen die Apathie abgelegt. Sie erinnerte an das Motto des weltbekannten chilenischen Malers und Bildhauers Roberto Matta (verstorben 2002): „Crear para creer“ – Man müsse selbst etwas schaffen, woran man dann glauben kann.
Der Autor, Herausgebervertreter des Südwind-Magazins, ist seit vielen Jahren als Journalist und Redakteur tätig, zuletzt bei der Tageszeitung Der Standard.
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