Und wenn die Welt morgen unterginge, würde ich heute noch wählen gehen. Pessimistische Prognosen zerstören den Gestaltungswillen nicht.
Das Unbehagen wächst. Auf der anderen Seite hören und lesen wir ständig von Schirm, Schutz und Rettung. Breit gestreuter Pessimismus würde wirtschaftlich alles noch schlimmer machen. Daher machen uns PolitikerInnen glauben, sie hätten die Krise im Griff. Von ihnen hört man es nie so klar ausgesprochen wie vom Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein in dieser Ausgabe (siehe Seite 23): Das System Kapitalismus stecke in einer strukturellen Krise, in einer Art Teufelskreis aus System-immanenten Widersprüchen. Nach einer Art Pyramidenspiel, das seit einigen Jahrzehnten praktiziert worden sei, gebe es nun keine Expansions- und Ausweichmöglichkeiten mehr. Der weltbekannte Historiker Eric Hobsbawm, der kürzlich im Alter von 95 Jahren verstorben ist, dachte ähnlich. Nach dem Zusammenbruch der Lehman Bank im Jahr 2008 prognostizierte er eine schreckliche Katastrophe, sollte nicht der Ideologie des grenzenlosen Wachstums abgeschworen werden.
Den Herren Wallerstein und Hobsbawm ist gemein, dass sie mit ihrem Denken Zeitspannen und geographische Räume überbrücken, die das kurze Gedächtnis und den begrenzten Horizont unseres Alltagsdenkens sprengen. Hobsbawm, der quer durch das politische Spektrum als Wissenschaftler hoch geschätzt ist, lässt uns durch das Fenster, das uns die Gegenwart öffnet, in die Vergangenheit spähen und diese zumindest ansatzweise verstehen. Die Geschichte zeigt uns nicht den Weg, wohin es geht. Aber sie zeigt uns, dass schon so oft Unvorstellbares, Undenkbares geschehen ist. Hobsbawm hat in seinem langen Leben Monarchien, Kaiser- und Kolonialreiche stürzen sehen. Der Schluss liegt nahe, dass es keine Dauerlösungen gibt. Das gilt auch für den Kapitalismus, so fest er auch in den Köpfen der Menschen verankert ist, für wie unumstößlich er auch immer gehalten wird.
Kann man angesichts dieser Aussichten überhaupt Optimist bleiben? Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das einzig Konstante der Wandel, die Veränderung ist. Und – dies ist die gute Nachricht – das ist nichts Neues, sondern eine wesentliche Herausforderung des Menschseins – nicht nur zu Allerseelen. Das Bewusstsein, wie kurz die Spanne des individuellen Lebens ist, löscht aber den Gestaltungswillen nicht aus.
Klar und schonungslos zu sehen, worauf wir zusteuern, ist einer Welt vorzuziehen, in der sich die Menschen gegenseitig die Augen zuhalten. Zu hören, dass es wirklich ernst ist, bestätigt das Gefühl: Nicht man selbst, sondern die Welt ist verkehrt.
Hobsbawm schließt trotzdem eine fundamentale Änderung des Bewusstseins nicht aus, die viel Leid verhindern könne. Schließlich seien nicht einzelne Menschen schlecht, sondern das System der reinen Marktwirtschaft, das auf Habgier begründet sei.
Es gibt keine Welt, keine Epoche und keinen Ort, wo es kein politisches Handeln braucht. Und je klarer die Einsichten sind, auf denen es beruht, desto besser. Zumindest das könnten wir aus der Geschichte lernen.
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