Präsident Evo Morales kam auf Kurzbesuch zur 52. UN Commission on Narcotic Drugs in Wien, um eine Neubewertung des Kokablattes zu fordern. Als ersten Schritt beantragte Bolivien am 12. März die Streichung zweier Artikel der UN-Drogenkonvention von 1961, die ein Verbot des Kokakauens fordern.
Südwind-Mitarbeiter Robert Lessmann konnte mit dem Präsidenten das einzige Interview für ein Printmedium führen. Er sprach mit ihm auch über den „Prozess des Wandels“ in Bolivien.
Südwind: Sie fordern eine Neubewertung des Kokablatts. Mit welchen Argumenten?
Evo Morales: Koka ist nicht Kokain! Das Kokablatt hat eine jahrtausendelange Tradition in unserem Volk. Man benutzt es zum Kauen, zu spirituellen Zwecken, Koka ist ein Heilmittel in unserer traditionellen Medizin. Man kann es nicht verbieten! Das ist ein Attentat auf die Kultur der Andenvölker. Die internationalen Konventionen behandeln Koka so, als wäre es eine Droge. Das ist ein historischer Irrtum: Einen uralten Brauch, der keinerlei Gesundheitsschäden herbeiführt, aber für große Teile der Menschen in unserem Land zum Leben gehört, kann man nicht einfach verbieten. Das ist absurd und muss korrigiert werden.
Aber Koka ist auch Grundstoff für die Kokainherstellung.
Kokain ist unserer Kultur fremd! Meine Regierung garantiert einen frontalen Kampf gegen den Drogenhandel. Die Beschlagnahmungen von Kokain, seinen Vorprodukten und der zur Herstellung notwendigen Chemikalien sind höher als bei allen meinen Vorgängern. Im letzten Jahr haben wir 24,4t beschlagnahmt. Auch die Vereinten Nationen bestätigen in ihren Berichten unsere Erfolge.
Aber bedeutet mehr Kokaanbau nicht potenziell auch mehr Kokain?
Unsere Strategie zur Drogenbekämpfung lautet: "Ja zum Koka, Nein zum Kokain!" Wir bekämpfen den Drogenhandel und erlauben den Kokaanbau in vernünftigem Rahmen. Wir sprechen nicht mehr von Kokavernichtung, sondern von "Rationalisierung". Eine Studie, die gerade durchgeführt und von der EU finanziert wird, ermittelt den Kokabedarf für traditionelle Zwecke. Bis dahin haben wir 20.000 Hektar erlaubt.
Im Augenblick haben wir mehr als das. Deshalb "rationalisieren" wir, das heißt, die Reduzierung des Kokaanbaus wird in Absprache und im Konsens mit den bäuerlichen Gemeinschaften durchgeführt. Unsere neue Verfassung schützt in ihrem Artikel 384 die Koka außerdem als Natur- und Kulturgut. Wir möchten, dass die internationalen Bestimmungen mit der Realität in unserem Land in Einklang gebracht werden.
Die Kokavernichtung war ein Vierteljahrhundert lang die wichtigste Ursache für soziale Auseinandersetzungen und hat viele Todesopfer gefordert.
Das ist nun Vergangenheit. Wir reduzieren jetzt den Anbau im Einklang mit unserer Kultur und unseren Gegebenheiten und nicht mehr auf Befehl aus dem Ausland. Ich selbst bin ja in diesen sozialen Kämpfen groß geworden. Der Widerstand gegen die Kokavernichtung hat mich letztlich zum Präsidenten gemacht, wenn Sie so wollen.
Ich erinnere mich noch, als ich Mitte der 1990er Jahre zum ersten Mal als Bauernführer nach Wien kam. Man wollte mich damals bei den Vereinten Nationen gar nicht reinlassen! Ich hatte nur wenig Geld zur Verfügung. Nur für Hotelübernachtung und Frühstück, wo ich am Buffet dann immer so viel gegessen habe, bis ich nicht mehr konnte, damit es den Tag über anhielt. Heute bin ich unter besseren Bedingungen hier. Aber ich werde das den österreichischen Freunden nie vergessen, die mich damals unterstützt und eingeladen haben.
Damals sind Ihre Vorstöße vor allem am Widerstand der USA gescheitert. Glauben Sie denn, dass heute bessere Chancen bestehen?
Bei meiner Rede vor dem Plenum wurde einmal schallend gelacht und viermal applaudiert. Das ist absolut unüblich bei den Vereinten Nationen. Ich weiß, dass das noch keine Zustimmung bedeutet. Aber die Stimmung hat sich gewandelt. Und was die USA betrifft: Wir bemühen uns um gute Beziehungen zu allen Nationen. Aber auf gleicher Augenhöhe, ohne Bevormundungen und Bedingungen. Präsident Obama und ich haben Gemeinsamkeiten. Er als Afroamerikaner und ich als Indígena und Campesino – wir stammen beide aus einer marginalisierten und unterdrückten Bevölkerungsgruppe. Wir wissen, was Diskriminierung bedeutet! Ich hoffe sehr, dass mit seiner Regierung ein besseres Verständnis möglich ist.
Die ersten Signale aus Washington waren nicht sehr ermutigend in dieser Hinsicht. Hillary Clinton hat vor dem Kongress ein energischeres Vorgehen gegen Venezuela und Bolivien angekündigt.
Wir wollen sehen, wie sich das in der Praxis entwickelt. Wir haben mit Venezuela und Kuba gemeinsam, dass wir nicht der Hinterhof der USA sein wollen. Auch andere Nachbarn sehen das so. Darüber hinaus handelt es sich nicht darum, Entwicklungsmodelle zu importieren und zu kopieren. Jedes Land hat seine eigenen Bedingungen, auf die die Politik abgestimmt werden muss. Kuba als tropische Insel und Bolivien als Andenland mit vielen unterschiedlichen Völkern.
Die neue Verfassung trägt dem zum ersten Mal Rechnung …
Ja. Die Verfassung erkennt den plurinationalen Charakter an. Gleichzeitig verlangt sie eine Entkolonisierung und legt ein Bekenntnis gegen den Neoliberalismus ab. Quetschwa, Aymara, Guaranies, Mestizos, Weiße, Afrobolivianer – alle haben gleiche Rechte. Wir wissen, dass dies noch keine Realität ist, sondern ein Prozess, aber wir arbeiten daran. Autonomien für die Departments, auf regionaler Ebene, auf Ebene der Gemeinden und der indigenen Gemeinschaften werden eine Dezentralisierung des Staates ermöglichen, eine Emanzipation und mehr Demokratie von unten. Grundbedürfnisse werden als Grundrechte festgeschrieben: Wasser, Elektrizität und andere. Sie können laut der neuen Verfassung nicht privatisiert werden.
Für die Nutzung unserer Bodenschätze suchen wir ausländische Partner, aber wir dulden keine Fremdbestimmung mehr. Die Verstaatlichung der Öl- und Gasressourcen im Mai 2006 hat es erlaubt, dass wir zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder Budgetüberschüsse haben. Im letzten Jahr waren es mehr als acht Milliarden US-Dollar. Das mag in Österreich wenig erscheinen – aber in einem armen Land wie Bolivien ist das ein gutes Ergebnis und erlaubt uns eine Steigerung der öffentlichen Investitionen. Dank der Hilfe Venezuelas und Kubas konnten wir den Analphabetismus in unserem Land ausrotten. Wir verbessern das Gesundheitssystem und streben an, dass es in jeder Gemeinde ein bis zwei Ambulanzen gibt. Wir sind ein armes Agrarland. Aber ein großer Teil des Bodens liegt brach. Einige reiche Familien nutzen es zur Spekulation und haben es sich zum Teil auch illegal angeeignet. Unsere neue Verfassung schützt auch das Privateigentum. Aber illegal erworbenes Land muss zurückgegeben werden, und das Land muss eine wirtschaftliche und soziale Funktion haben. Wir haben Staatsland an Landlose und indigene Gemeinschaften verteilt. Die Obergrenze für Großgrundbesitz liegt bei 5.000 Hektar – 80% der Wähler und Wählerinnen haben das so bestimmt! Und erstmals gibt es Besitztitel für Frauen.
Ist es denn mit einer Umverteilung getan?
Natürlich nicht. Wir müssen auch die Produktivität steigern. Wir haben eine staatliche Entwicklungsbank zur Förderung von Kleinbauern gegründet. Mit Programmen zur Mechanisierung der Landwirtschaft haben wir erreicht, dass es heute fast in jeder unserer 324 Gemeinden 3 Traktoren gibt – nicht wirklich in jeder, aber im Durchschnitt.
Aber es gibt Widerstände! Im letzten September stand Bolivien vor einem Putsch.
Wir haben es "Zivilputsch" genannt. Es gibt Leute, die gewohnt waren, Privilegien zu genießen, die sich gegen diesen Prozess des Wandels und der Emanzipation sträuben, die ihre Privilegien verteidigen. Sie werden sich nicht durchsetzen. Wir haben alle Wahlen seit meiner Wahl im Dezember 2005 mit absoluter Mehrheit gewonnen, damals mit fast 54%; die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung mit über 51%. Beim Abwahlreferendum vom August 2008 wurden ich und mein Vizepräsident Alvaro García Linera mit 67% der Stimmen bestätigt und die neue Verfassung wurde in der Volksabstimmung vom 25. Jänner mit 61% der Stimmen angenommen. Wir haben noch viel Arbeit vor uns, aber die alten Eliten werden sich gegen diese demokratische Revolution nicht durchsetzen.
Eine sehr optimistische Sicht!
Natürlich kann man die Schäden, die 500 Jahre Kolonialismus und 25 Jahre Neoliberalismus angerichtet haben, nicht in drei Jahren beseitigen. Es bleibt noch viel zu tun. Natürlich haben auch wir mit Missständen und Problemen zu kämpfen. Es gibt noch immer Korruption. Aber unsere demokratische Revolution ist auf gutem Weg!
Robert Lessmann ist freier Mitarbeiter des Südwind-Magazins und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Lateinamerika und der internationalen Drogenpolitik.
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