Da uns die Verhältnisse in der Welt empören, ist es nur zu verständlich sie über Erziehung verändern zu wollen. Allein die Absicht bringt jedoch keine Veränderung und auch ein volles Herz garantiert kein günstiges Ergebnis, gibt der Evolutionstheoretiker Alfred Treml zu bedenken.
Die eingangs gestellte Frage unterstellt eine Veränderung der Gesellschaft zum Guten hin. In ihrer Beantwortung stimme ich den WissenschafterInnen zu, die sagen, dass es um Erziehung, jedoch nicht um Verbesserung gehen sollte. Nicht darum, Lebensglück herstellen und den Menschen moralisch veredeln zu wollen. Wichtiger wäre innezuhalten, um die Chance zum Umdenken einzuräumen. Denn rastloses Schnelllaufen führt in die Leere. „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“, sagt ein afrikanisches Sprichwort.
Noch in den 1980er Jahren zeichnete der Club of Rome ein äußerst optimistisches Bild von der Lernfähigkeit von Menschen, ja ganzer Gesellschaften. Inzwischen ist es anerkanntes Wissen, dass Erziehung nicht direkt auf das Bewusstsein eines Menschen zugreifen kann. Die uns zur Verfügung stehenden pädagogischen Instrumente können das innere Leben anderer nicht von außen verändern, unsere innere Organisation ist autark.
Gesellschaftsveränderung über Erziehung kann nur durch Indoktrination gelingen. Doch sie verstümmelt gewaltsam den Menschen, produziert Inhumanität und verhindert die Erfahrung von Unterschiedlichkeit.
Erziehung kann aber die Lernumwelt so gestalten, dass Lernen gefördert wird. Die Erziehungswissenschafterin Annette Scheunpflug ist überzeugt: Lernprozesse, die anschaulich und sinnlich an die eigenen Erfahrungen und den eigenen Lebensbereich anschließen, an vertraute Gefühle und Werte, an die Voreinstellungen und den Lernenden Bekanntes, werden auf mehr Interesse stoßen als abstrakte Inhalte und erfahrungsarme Verfahren. Statt eintrichternder Belehrung sollten sich Lernende den jeweiligen Bildungsprozess zu Eigen machen können. Im Besonderen kann dies gelingen, wenn der Eigennutz angesprochen wird. Dies gilt auch für Kooperation und Solidarität, die wir eher ausüben, wenn sie im persönlichen Interesse liegen.
Erziehung ist die Anregung zum Lernen, nicht schon Lernen selbst. Sie sollte zum Denken anregen, aber auch sinnvolles Vergessen ermöglichen, damit der Platz für Neues wachsen kann. Und sie sollte Widerstände aufbauen, damit das Bewusstsein neue Wege suchen muss.
Erziehung kann eine (bessere) Anpassung an die Umwelt und die Anschlussfähigkeit an die Gesellschaft ermöglichen. Da wir nicht zuletzt aufgrund unserer Prägung immer nur in wenigen Optionen denken, zugleich die komplexen Rückwirkungen unseres Handelns nicht restlos abschätzen können, wäre es sehr unklug, auf nur ein Modell zu setzen. Erziehung sollte deshalb Gedankenreichtum und unterschiedliches Herangehen fördern. Die Befähigung der Menschen, mit Komplexität umzugehen und das Einüben von Vielfalt und Alternativen sind wesentliche Aufgaben einer zeitgemäßen Pädagogik.
Die Fragen nach dem guten Leben sind zu stellen, aber nicht über Erziehung zu beantworten. „Stets das Bessere erreichen zu wollen, ist der Feind des Guten“, beschreibt es Heinrich Dauber. Es ist vernünftiger, kritische Distanz zu wahren und Selbstbeschränkung in den pädagogischen Ansprüchen zu üben. Oder um an Paulo Freire anzuschließen: Vorrang gebührt der wiederkehrenden kritischen Reflexion der eigenen Praxis.
Wir lernen vor allem über Begegnungen und Beobachtungen. Bei ihnen finden unvermeidbar Veränderungen in uns statt. Doch welcher Art diese sind, ist absichtsvoll nicht herstellbar. Das Leben ist in letzter Konsequenz unvorhersehbar und selbst die eigenen Gefühle bleiben für einen selbst überraschend. Je genauer Erziehung geplant wird, desto wirksamer ist der Zufall.
Erziehung soll nicht die Gesellschaft verändern wollen. Es findet sich zu viel Normatives in den verschiedensten Bildungsprogrammen. Hilft dies? Abstrahiert bleiben Werte zu allgemein, moralisiert führen sie zu Mord und Totschlag und individualisiert sind sie der Weg in die Ellbogengesellschaft. Erziehung vermeint zu sehr, immer das Gute auf ihrer Seite zu haben. Sie übersieht, hält Klaus Seitz fest, dass sie auch Teil des Problems sein kann, wenn sie etwa die Frage nach den politischen Realitäten nicht stellt und strukturelle Ungleichheiten verstärkt statt abbaut. Es destabilisiert eine Gesellschaft, wenn zum Beispiel arbeitslose Jugendliche „produziert“ werden.
Die meisten Institutionen, die Erziehung organisieren, schränken Selbstbestimmung und Freiheit durch zeitliche, räumliche und/oder inhaltliche Rahmenbedingungen ein. Bildung wird zunehmend zur Ware und Dienstleistung, die/der Lernende zum „Humankapital“. Eine solchermaßen entpolitisierte Bildung kann ihren eigentlichen Aufgaben nicht mehr nachkommen.
Die kritische Analyse und Reflexion der Verhältnisse und unseres Handelns bleibt eine zentrale Anforderung an die Erziehung. Zweifel und Fragen sind elementare Teile von Lernprozessen. Sich Klarheit über die eigene Situation zu verschaffen, Orientierung im Handeln zu erlangen, Perspektiven für die Weltgesellschaft zu erkunden, sind noble Aufgaben einer kritischen Pädagogik, die sich im Lichte der Weltpolitik den bestehenden komplexen Zusammenhängen widmen möchte.
*) Es fand unter gleichnamigem Titel am 21./22.1.2005 in Stuttgart ein Pädagogisch-Theologisches Kolloquium statt, an dem führende deutsche PädagogInnen wie Karl-Ernst Nipkov, Alfred Treml, Heinrich Dauber, Annette Scheunpflug, Wolfgang Sachs, Ulrike Baumann, Klaus Seitz und Fuad Kandil teilnahmen.