Justino Guerra packt eine der noch jungen Kartoffelpflanzen am Kraut und zieht vorsichtig. Langsam löst sich die lehmige Erde und gibt die etwa fünf Zentimeter tief liegenden Kartoffeln frei. Lila schimmern die länglich gewachsenen kleinen Knollenfrüchte, von denen Justino zwei in einen Eimer fallen lässt. Einige Meter weiter wiederholt sich das Prozedere. Immer mehr Knollen landen in dem gelben Plastikeimer. Manche erinnern von ihrer Form her an kleine Bananen, andere sind oval, manche zweifarbig und einige ähneln eher Tannenzapfen als Kartoffeln.
Der kleine drahtige Mann hat das auf knapp 4.000 Meter Höhe liegende Feld vor sechs Monaten mit anderen Bauern aus der Siedlung Chawaytire angelegt. 246 Kartoffelvarietäten haben die im Kollektiv arbeitenden Indios auf der Hochebene angepflanzt. Rund zwei Kilometer ist die etwa vier Hektar große Anbaufläche vom kleinen Andendorf entfernt. Heute sind Justino Guerra und Milton Gamarra gekommen, um zu schauen, wie die Kartoffeln gedeihen. Die sind nämlich etwas Besonderes. Erst vor wenigen Monaten hat das Internationale Kartoffelinstitut (CIP) in Lima das Saatgut geliefert. Wenig später wurde es von Justino und den DorfbewohnerInnen unter die Erde gebracht. „Die Sorten waren längst ausgestorben, sie wurden nicht mehr angebaut“, erklärt Milton Gamarra. Er ist für den Erhalt der zahlreichen Kartoffelsorten, die im „Kartoffelpark“ von Pisac vorkommen, verantwortlich.
Der Park, 1998 von sechs Indiogemeinden gegründet, liegt rund dreißig Kilometer von Cusco entfernt in den peruanischen Anden. Auf kleinen Feldern, oft Terrassen, wird dort wie vor Jahrhunderten Landwirtschaft betrieben. Traktoren oder Motorfräsen gibt es weit und breit nicht. Ein einfacher Pflug, gezogen von zwei Ochsen, und die traditionelle Harke der Inka, die taclla, sind die wichtigsten landwirtschaftlichen Geräte.
„Schwere Geräte könnten wir uns ohnehin nicht leisten“, erklärt Justino. Die Erfahrungen mit moderner Landwirtschaft sind alles andere als gut in den Indio-Gemeinschaften. Modernes Saatgut ist empfindlich, muss gedüngt und mit Pflanzenschutzmitteln behandelt werden. Viele Bäuerinnen und Bauern aus Chawaytire, aber auch aus den fünf anderen Gemeinden des Kartoffelparks hatten sich in der Hoffnung auf bessere Erträge für das industrielle Saatgut entschieden und sich verschuldet. „Doch nur am Anfang waren die Erträge gut, dann gingen sie zurück und die Pflanzen wurden immer anfälliger“, schildert Gamarra die Erfahrungen. Jetzt bauen die Bauernfamilien der sechs Gemeinden nur noch papas nativas, traditionelle Kartoffelsorten, nach den alten Anbaumethoden an. Chemische Düngemittel und künstlich verbessertes Saatgut sind tabu im 9.000 Hektar umfassenden Kartoffelpark. Darauf haben sich die rund 1.500 Bäuerinnen und Bauern des Parks geeinigt, und Leute wie Milton Gamarra wachen darüber, dass die Vorschriften auch eingehalten werden.
Zwölf Kartoffeltechniker stehen dem schlaksigen Agrarspezialisten zur Seite, zwei pro Gemeinde. Sie treffen sich regelmäßig im Zentrum des Kartoffelparks, einem hellen, im Stil der Inka gebauten Steinhaus, das im unteren Bereich des Parks angesiedelt ist. Dort werden, bis das eigene Restaurant des Kartoffelparks Realität ist, auch die BesucherInnen empfangen und bekocht. Aufgetischt werden ausschließlich Kartoffelgerichte, die teils mit Alpaca-Steak, teils mit gegrilltem Meerschweinchen, den beiden wichtigsten Fleischlieferanten der andinen Regionen, serviert werden.
Dort steht auch der Computer – das Hirn des Kartoffelparks. Alle wesentlichen Informationen über die Kartoffelpflanzen, die bisher im Park angebaut werden, sind hier gespeichert. „Zu jeder Pflanze wird derzeit eine Legende angelegt, für die wir Techniker die Informationen zusammentragen“, erklärt Orestes Castañeda. Der in einen Poncho mit klassischem Muster gehüllte Agrartechniker zeigt auf die Spalten auf dem Bildschirm. Eigenschaften der Sorte, ihr Geschmack, die kulturelle Bedeutung und eine etwaige medizinische Wirkung sind dort aufgelistet. Viele der Informationen über die rund 900 Knollensorten, die bisher in den Datenbanken gespeichert sind, stammen aus den Gemeinden. „Mit leuchtenden Augen geben die Alten weiter, was sie über die Pflanzen im Park wissen. Sie freuen sich, dass ihr Wissen gefragt ist und so lernen wir Jüngeren viel Neues über die Pflanzen, aber auch über unsere eigene Identität“, sagt Castañeda.
„Letztlich versuchen wir, das traditionelle Wissen der Gemeinschaft zu erhalten“, erklärt Milton Gamarra. Auch über Mais, Getreide, die wichtigsten Medizinalpflanzen und die traditionellen Bäume der Region werden Register angelegt. Das hat der Identifikation mit dem Projekt Kartoffelpark einen Schub verliehen. „Vor einigen Jahren gab es noch viel Streit zwischen den Gemeinden. Seit der Gründung des Parks gibt es weniger Konflikte, denn wir alle haben mit dem Aufbau des Parks ein gemeinsames Ziel“, erklärt Alejandro Suca. Alle der rund 4.000 andinen Kartoffelsorten wollen die Bauernfamilien in ihrem Park anpflanzen und so die weltweit erste lebende Samenbank aufbauen.
„Die Gemeinden haben nun begriffen, dass ihr traditionelles Wissen einen Wert darstellt“, erklärt Alejandro Argumedo von der in Cusco ansässigen Nichtregierungsorganisation Andes. Die hat gemeinsam mit den sechs Gemeinden ein bis 2020 laufendes Konzept entwickelt. Spätestens dann sollen alle andinen Kartoffelsorten im Park gedeihen, und Wanderwege sollen die Anbauflächen und Sehenswürdigkeiten des Parks komplett erschließen. „Und natürlich wird es dann neben dem Restaurant auch Übernachtungsmöglichkeiten für die Touristen geben“, erklärt Argumedo das Konzept. Der Tourismus ist ein Eckpfeiler der Finanzierung des ambitionierten Projekts.
Dieses hat auch zum Wandel in der Wahrnehmung der Kartoffel in Peru beigetragen. Ein Beispiel dafür ist der „Nationale Tag der Kartoffel“, der am 30. Mai 2004 erstmals im Andenland gefeiert wurde. Auch das Internationale Kartoffelinstitut (CIP) gehörte zu den Initiatoren des Kartoffel-Tags, so William Roca. Er ist der Verantwortliche für Arterhaltung am Institut. CIP unterstützt indigene Gemeinden mit Saatgut, fördert die Verbreitung traditioneller Kartoffelarten und setzt sich auch für eine bessere Vermarktung der schmackhaften, form- und farbenprächtigen Arten ein. Die werden in Peru nicht überall geschätzt. So werden Kartoffeln teilweise aus dem Ausland importiert, und der Reis hat als Grundnahrungsmittel der Kartoffel in den letzten Jahren zunehmend Konkurrenz gemacht. „Eine Dummheit“, meint Alejandro Argumedo. „Die andinen Kartoffeln stärken das Immunsystem, „deshalb werden sie auch in der Krebs- und HIV-Therapie eingesetzt“. Langfristig will der Kartoffelpark deshalb eine Kartoffelmischung züchten, die nachweislich besonders förderlich für das Immunsystem ist.
In den Monaten nach der Ernte im Juni wird eine besonders schmackhafte Mischung von „eingeborenen Kartoffeln“, wie sie in Peru heißen, in der größten Supermarktkette des Landes angeboten. Doch derzeit fehlt es noch an Lagermöglichkeiten, um die Kartoffel das ganze Jahr über anbieten zu können. In den nächsten Jahren soll ein – großteils vom CIP finanziertes – Kühlhaus gebaut werden. Das Institut stellt auch Saatgut aus der Genbank bereit. 246 Arten wurden 2004 geliefert; im darauffolgende Jahr etwa dieselbe Anzahl. Um die Arbeit allerdings langfristig finanzieren zu können, braucht der Park weitere Einnahmequellen. Die Anschubfinanzierung vom Rockefeller Institut ist weitgehend verbraucht. Einen wesentlichen Beitrag könnte ein anderes CIP-Projekt leisten. Kurz vor der Marktreife steht nämlich die Produktion von Chips aus andinen Kartoffeln. Mit den ungewöhnlichen Formen und Farben könnten die Andenchips zu einem Exportschlager werden – falls der nächste Schritt gelingt und Unternehmen für die Produktion und die weltweite Vermarktung gefunden werden.