„Menschenwürdige Arbeit“ bietet sich als Entwicklungsziel der Zukunft an.
Der Begriff „Wirtschaftsstandort“ macht mich hellhörig. Was genau meint zum Beispiel der Präsident der österreichischen Industriellenvereinigung, wenn er – wie kürzlich beim Forum Alpbach – dem Wirtschaftsstandort Österreich „enorme Probleme“ attestiert? Sind die Löhne zu hoch, die Gewerkschaften zu stark, die Gesetze zum Schutz von Mensch und Umwelt zu streng? Sind die Lebensbedingungen der ÖsterreicherInnen zu gut? Aus Sicht der global agierenden Unternehmen wird die Qualität eines Standortes vorrangig nach diesen Kriterien bewertet. Transnationale Konzerne und auch immer mehr mittelgroße Unternehmen lagern Teile ihrer Produktion und Dienstleistungen dorthin aus, wo es für sie am billigsten ist und sie am wenigsten soziale Verantwortung tragen müssen. Verändern sich die Rahmenbedingungen – etwa wenn die Löhne steigen oder strengere nationale Regelungen wirksam werden – zieht die Karawane weiter. Produktionsländer sind mit dem Standortargument erpressbar und sind bemüht, ein „investitionsfreundliches“ Klima zu schaffen. Dass dieses oft menschenfeindlich ist, belegen zahlreiche Studien.
Der jüngste Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über die globalen Löhne (erschienen Dezember 2012) zeigt, dass weltweit die ArbeiterInnenschaft keinen fairen Anteil an dem Wohlstand bekommt, den sie generiert. In den Industrieländern ist zwischen 1999 und 2011 die Arbeitsproduktivität mehr als doppelt so stark gewachsen wie die Löhne. Wo ist der größere Anteil an der Wertschöpfung verblieben? Viel schlimmer ist die Situation in Schwellenländern und armen Ländern. Neben der beträchtlichen Arbeitslosigkeit sind viele Menschen unterbeschäftigt und unterbezahlt. Die Hälfte der Welterwerbsbevölkerung verdient weniger als zwei Dollar pro Tag. Und mehr als die Hälfte der Menschen arbeitet ungesichert, ungeschützt und unregistriert im so genannten informellen Sektor. 2,2 Millionen Menschen sterben jedes Jahr buchstäblich an ihrer Arbeit – durch Unfälle und Krankheiten. Auch im formellen Sektor, wie die Fabrikbrände und -einstürze in Bangladesch und Pakistan zeigen.
Auch im formellen Sektor sind die Löhne oft nicht existenzsichernd. Zum Beispiel in der besonders stark globalisierten Textilproduktion. Zwischen 2001 und 2011 sind die Löhne im Großteil der Produktionsländer real gefallen. Im Schnitt machen sie nur 36,8%, also einen Bruchteil, des so genannten „Living Wage“ aus. „Living Wage“ bedeutet angemessene Ernährung, Unterkunft und andere Mindesterfordernisse für eine menschenwürdige Existenz.
Bereits seit 2008 begeht die internationale Gewerkschaftsbewegung am 7. Oktober den Welttag für menschenwürdige Arbeit („decent work“). In der internationalen Enwicklungsdebatte kommt das Thema scheinbar gerade erst an. Die Millennium Development Goals (MDGs) werden der Bedeutung menschenwürdiger Arbeit im Rahmen der Globalisierung nicht gerecht. Jetzt geht es darum, „decent work“ als Entwicklungsstrategie in der zukünftigen Entwicklungsagenda, die nach 2015 die MDGs ablösen wird, zu verankern. „Menschenwürdige Arbeit“ ist der Schlüssel zu einer sozial gerechten Globalisierung im Süden wie im Norden. Denn wir alle leben an einem „Wirtschaftsstandort“.
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