Die Leitlinien für den allerorts geforderten Kurswechsel sind da. Doch wir scheitern an der Umsetzung, meint Franz Fischler.
Kein Kommentar oder Essay scheint derzeit ohne die Forderung nach einem Kurswechsel auszukommen. Angefangen bei der österreichischen Innenpolitik, aber genauso auf EU-Ebene, wird der Ruf nach Erneuerung laut. Fehlt es uns tatsächlich an Orientierungspunkten oder bieten nicht die vorhandenen genügend Leitlinien für unser Zusammenleben? Etwa die europäischen Grundrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention, die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen oder die jüngst in Paris unterzeichneten Klimaziele? Der Blick in die Präambel des EU-Vertrags bietet Aufschluss: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“ Diese Werte sind uns allen in der EU gemeinsam. Unsere Gesellschaft muss sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnen. Damit wäre doch eigentlich alles gesagt. Es fehlt uns also sicher nicht an Orientierung, sondern wir versagen an der konsequenten Umsetzung. Immanuel Kant hat Faulheit und Feigheit der Menschen als Barrieren der Aufklärung identifiziert und uns Menschen die Fähigkeit zum selbstständigen Denken attestiert.
Franz Fischler, ehemaliger EU-Landwirtschaftskommissar, ist Präsident des Europäischen Forums Alpbach, das jeden Sommer im Tiroler Bergdorf Alpbach stattfindet und tausende Menschen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Kultur und Zivilgesellschaft aus ganz Europa anzieht.
Mut statt Zweifel. Die Gegenwart zeigt, dass sich Geschichte nicht von allein zum Besseren wendet. Es braucht neugierige und enthusiastische Menschen, die der Skepsis und dem Zweifel mutige Ideen und Tatkraft entgegensetzen. Zu Zeiten Kants bestand die Dunkelheit noch aus den politischen Lehren der Religionen und dem blinden Glauben an die Gesetze einer göttlichen Instanz. Leider befindet sich Europa erneut in einem Nebelfeld und lässt auf vielen Ebenen keinen gemeinsamen Kurs erkennen. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat die Säulen des Kapitalismus brüchig werden lassen. Der längst in Gang befindliche Klimawandel hat die Scheinheiligkeit der gesteckten Ziele offengelegt. Und eine globale Fluchtbewegung stellt die politischen und moralischen Grenzen Europas in Frage. Kein Wunder also, dass Skepsis und die Suche nach dem radikal Anderen boomen. Wenn dann das größte Erbe der Aufklärung, die Freiheit der Vernunft, auf religiösen Fanatismus trifft, wenn die Logik der Terrorangst weichen muss und Solidarität am Egoismus scheitert, dann wird es höchste Zeit für eine neue Aufklärung.
Aus der Mitte. Die Denkwerkzeuge der Kantschen Aufklärung reichen nicht mehr aus, um die aktuellen Herausforderungen zu meistern. Nicht ohne Grund ergänzt Stéphane Hessel seinen Bestseller „Empört euch!“ mit der Forderung „Engagiert euch!“. Das Handeln sollte nicht den radikalen Rändern überlassen werden, sondern vielmehr aus der Mitte der Gesellschaft entspringen. Es braucht eine breitere Partizipation, eine Politisierung, die nicht bloß mit Wahlen oder Parteien zu tun hat, sondern viel mehr mit der Teilhabe an gesellschaftlichen Entwicklungen. Das geht nur im engen Dialog mit engagierten BürgerInnen und durch die aktive Förderung zivilgesellschaftlicher AkteurInnen. Dabei wird oft übersehen, dass solche Netzwerke nicht auf den Nationalstaat begrenzt sind. Finanzwelt und Wirtschaft schaffen es seit Jahrzehnten, Grenzen abzubauen, während Politik und Justiz die nationalen Fesseln nicht loszuwerden scheinen. Die Flüchtlingskrise hat gezeigt, wie tief die Wunden der vergangenen Kriege, Deportationen und Besetzungen bis heute im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Selten waren einzelne Beziehungen innerhalb der Europäischen Familie so unterkühlt wie heute.
Was kann jede und jeder von uns beitragen? Sich zu empören und sich zu engagieren reicht nicht. Ein neues, aufgeklärtes Europa muss sich europäisieren. Alpbach bietet im August unter dem Generalthema „neue Aufklärung“ die Möglichkeit dazu.
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