In Brasilien ist Bier ein Getränk der Mittelschicht. Den Reichen ist es zu gewöhnlich, den Armen zu teuer. Gemessen an der Zahl der Sorten ein halbes Dutzend für dieses riesige Land ist die Bierlandschaft farblos. Die konsumierten Mengen sind trotzdem beträchtlich.
Um chope por favor, ertönt es, wenn in brasilianischen Lokalen fröhliche Stimmen chope um chope, Glas um Glas, offenen, eiskalten Fassbieres anfordern. Einige von uns erkennen gewisse Parallelen zum Biertrinken der Portugiesen, sehen im brasilianischen chope eine Ähnlichkeit mit dem lusitanischen Imperial.
Kein Wunder. Bereits im Jahre 1808 bringt die königliche Familie Portugals Bier aus Europa. Vorläufig benetzt das importierte Gebräu den Gaumen des Adels, des Klerus, befeuchtet die Lippen einiger Privilegierter.
Am 27. Oktober 1836 berichtet das Jornal do Commércio, ein wirtschaftsorientiertes Blatt in Rio de Janeiro, vom ersten Versuch, in Brasilien Bier herzustellen. 1885 wird die erste Brauerei, die Antarctica Paulista, im Bundesstaat Săo Paulo geboren.
1888 beginnt der Schweizer Immigrant Joseph Villinger Bier nach seinem aus Europa mitgebrachten Geschmack zu brauen. So entsteht die Manufatura de Cerveja Brahma Villinger & Companhia mit 32 Angestellten und einer täglichen Produktion von 12.000 Liter Bier.
Das Wort Brahma, noch heute Synonym für Bier, stammt von der hinduistischen Gottheit. Warum weiss keiner. Vielleicht hat darüber auch bis heute kein Zechgenosse ernsthaft nachgedacht …
Fernab der so genannten Zivilisation trinken die UreinwohnerInnen Brasiliens den Cauim. Ein alkoholisches Getränk, dessen Zubereitung den Frauen obliegt. Sie kauen gekochte, in Scheiben geschnittene Maniokwurzeln. Die in besondere Töpfe gespuckte Brühe wird abermals aufgekocht, die daraus resultierende Masse zum Gären gebracht. Guaranis, Tupinambás, Cainganges und andere Indianerstämme trinken den Cauim bei religiösen Zeremonien und anderen Feierlichkeiten. Das moderne Brasilien hat sich dem Bier nach europäischem Rezept verschrieben. 1890 braut Antarctica bereits 40.000 Hektoliter pro Jahr. 1899 wird die Brauerei Cervejaria Bavária mit ihrem Franziskaner Bräu von Joseph Villinger aufgekauft. Es folgen Fusionen, entstehen neue Filialen der beiden grössten Brauereien Brasiliens, Brahma und Antarctica. 1904 spricht man allein in Rio de Janeiro von einer Produktion von sechs Millionen Liter Fassbier, verteilt auf neun Bierdepots.
Heute, ein Jahrhundert später, teilen sich Brahma und Antarctica noch immer den brasilianischen Markt für Bier und Erfrischungsgetränke. Ein riesiges Land, so gross wie Europa, mit nur einem halben Dutzend verschiedener Marken Bier. Brahma und Antarctica verstreuen ihre Brauereien über ganz Brasilien.
Eine ziemlich farblose Bierlandschaft im Vergleich zu anderen Erdteilen. Es stelle sich jemand ein Europa mit ebenso wenigen Biermarken vor. Gösser von Gibraltar bis Gorkij, Schwechater von Syrakus bis Seydhisfjördhur.
Ende der 60er Jahre versucht die dänische Brauerei Carlsberg, einen Teil des brasilianischen Marktes zu erobern, scheitert aber bald am Oligopol der beiden Getränkeriesen.
1999 gründen Brahma, Antarctica und Skol die multinationale AmBev. Dies bedeutet von einem Tag auf den anderen eine Produktion von 1,6 Milliarden Liter Erfrischungsgetränken (1999) und sechs Milliarden Liter Bier (1999).
Im Schatten der eben genannten Getränkeriesen gedeihen kleinere Brauereien wie Schincariol, Kaiser / Heineken, Bavária/ Molson, Cristal, DÁvila.
In brasilianischen Delikatessenläden findet man hin und wieder Schwechater und Gösser. Vor einigen Jahren brachte ein deutscher Importeur sogar einen Container voll mit Bamberger Rauchbier nach Salvador, Brasilien. Ein Gebräu, das nicht jeder Deutsche mag, stiess bei den Baianos natürlich auf wenig Sympathie. Der Absatz war dementsprechend gering. Heute wird in einigen Gaststätten Brasiliens auch das britische Guiness ausgeschenkt. Das Gebräu kommt mit einer Temperatur von nur drei Grad Celsius auf den Tresen.
Brasilianer verlangen das Bier estúpidamente gelada, also verrückt kalt! Egal was man dem Biertrinker über den daraus resultierenden Geschmacksverlust sagt, er ignoriert es feierlich. Kühlschränken gelingt es, Bier auf Temperaturen unter Null zu trimmen, ohne dass es gefriert. Die herbeigetragenen Flaschen müssen unbedingt mit einer dicken Schicht Raureif beschlagen sein. Das nennen die Brasilianer véu de noiva, den so genannten Brautschleier.
Bei Empfängen der gehobenen Gesellschaft wird kein Bier serviert. Dafür ist das Gebräu nicht schick genug. Braune Schönheiten, als Sklavinnen verkleidet, servieren Weisswein und schottischen Whisky.
Bier ist der Champagner der Armen. Genau genommen Flaschenbier, denn das chope, das offene Bier, ist viel teurer. Für den von der brasilianischen Regierung vorgeschriebenen Mindestlohn, der je nach Wechselkurs umgerechnet zwischen 80 und 100 US-Dollar pro Monat schwankt, könnte sich der kleine Mann in einem Restaurant etwa 100 chopes bestellen. Für das gleiche Geld kriegt er im Supermarkt mehr als viermal so viel Flaschenbier.
Noch billiger ist der Zuckerrohrschnaps, auch aguardente, cachaça, pinga, usw. genannt. Eine Flasche der Marke 51, die in österreichischen Supermärkten um etwa 150 Schilling angepriesen wird, kostet in Brasilien nur etwas mehr als einen Dollar. Der arme Brasilianer trinkt noch billigere Schnäpse. Nicht selten werden jene Destillate in schlecht gesäuberten Behältern aufbewahrt, die ursprünglich für giftige Substanzen vorgesehen waren. In einem Land, wo fast alles gefälscht wird, sorgt Äthylalkohol im Schnaps hin und wieder für Todesopfer. Doch das durch den Alkohol eingeengte Bewusstsein lässt über die unzähligen Schwierigkeiten des Alltags hinwegschweben.
An den fleckigen Wänden der Bar wirbt ein Poster mit einer verheissungsvoll lächelnden Blondine in gelbem Bikini für eine bestimmte Biersorte. Bier wird von den mehr oder weniger dunkelhäutigen Brasilianern auch Blondine genannt. Die makellose Umwelt, im Hintergrund des Plakates, scheint für den Bewohner eines Elendsviertels auf den ersten Blick unerschwinglich. Jedoch ein Schluck des goldenen Gebräus muss in der Lage sein, einen Kontakt mit jenem Paradies herzustellen, den Trinker in jene himmlische Szene zu verpflanzen.
Die Gläser sind klein. Ein chope misst 0,25 bis 0,3 Liter. Eiskalt, gestrichen voll und ohne Schaum. So entspricht es der brasilianischen Biertradition. Damit es auch bei tropischen Temperaturen eiskalt bleibt, wird Flaschenbier aus noch kleineren Gläsern getrunken. Für die Flasche erfand man eine Hülse aus Styropor, die die Erwärmung des Getränks verlangsamt.
Das in Brasilien gebraute Bier entspricht etwa dem Pils Europas, ist etwas leichter und süffiger. Der Alkoholgehalt liegt zwischen 4,7 und 5,1 %. Ausser in Bierfässer mit 30 und 50 Liter Inhalt wird das brasilianische Gebräu auch in Flaschen mit einem Inhalt von 600 ml und 355 ml und in Dosen mit 350 ml abgefüllt.
Wenn in brasilianischen Strandlokalen Hände chopes und andere Gläser zum Mund führen, scheint alle Welt für einen steigendenBierkonsum zu konspirieren. Man sitzt die ganze Nacht hindurch im Freien, ohne nach warmer Kleidung greifen zu müssen. Die Gezeiten bringen unaufhörlich neue Wellen, die Kellner volle Gläser und Teller mit frittierten Krabben.
Der Trinkschauplatz in den Elendsvierteln schaut anders aus. Zwischen Biergläsern zwängt sich die eine oder andere Dose Zuckerrohrschnaps. Pitú, 51 und weniger bekannte Marken. In den Pfannen schmort Selbstgefischtes. Getanzt wird bei ohrenbetäubendem Samba-Sound. Der Schnaps tut seine Pflicht. Das Fest ist bald zu Ende. Ist auch gut so. Bald heisst es aufstehen, stundenlang im unsicheren Omnibus über löchrige Strassen zur Arbeit gerüttelt werden.
Wir, die wir zu den 10 Prozent der Lohnsteuer zahlenden Bevölkerung dieses magischen Landes zählen, haben es leichter. Wir können uns noch problemlos die wichtigste Institution brasilianischer Zechkunst leisten. Die saideira, das letzte Glas… oder besser, das vorletzte. Das letzte ist jenes Glas, das wir unmittelbar vor dem Zuknöpfen des hölzernen Rockes* trinken werden.
*Sarg
Bierliebhaber Reinhard Lackinger, Betriebswirt aus Kapfenberg, lebt seit über 30 Jahren in Bahia, Brasilien.
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