Venezuela steckt tief in der Krise. Wie sich die verheerende Wirtschaftslage auf das Alltagsleben der Menschen auswirkt, berichtet Jürgen Vogt.
Marta Herrero hat es eilig. Mit der Endziffer Null in ihrem Ausweis darf sie heute einkaufen gehen. 0 bis 4 am Samstag, 5 bis 9 am Sonntag. Montag ist für Marta ebenfalls Einkaufstag, zusammen mit den Einsen. Seit gut einem Jahr gilt in Venezuela das Nummernsystem. Damit sollen die Schlangen vor den staatlichen Verkaufsmärkten und den privaten Supermärkten kürzer werden.
Um sieben Uhr ist die Schlange vor dem Supermarkt Unicasa im Stadtteil Bello Monte von Caracas bereits hundert Meter lang. Marta schließt sich an. Um halb acht werden kleine Zettel mit Nummern verteilt, um acht öffnet Unicasa die Tore.
Marta hat Nummer 132. Das heißt: gut drei Stunden warten. „Nicht schlecht. Hier ist noch die 156 vom letzten Mal“, zeigt sie auf etwas Verblichenes auf ihrer Hand. „Manchmal gibt es keine Zettel, dann schreiben sie es dir mit Filzstift auf.“
Venezuelas Wirtschafts- und Versorgungslage ist verheerend. Seit der Preis für das wichtigste Exportprodukt Öl im stetigen Sinkflug ist, hat sich die Situation in dem von Importen abhängigen Land dramatisch verschlimmert. Noch im September 2014 lag der Preis für das Fass Rohöl bei knapp über 90 US-Dollar. 2015 fiel der Durchschnittspreis auf 46,07 Dollar pro Fass, gegenwärtig liegt er knapp unter der 40-Dollar-Marke.
Nebensache Einkaufszettel. Nur wer eine Nummer hat, kann sich in die nächste Schlange einreihen, an deren Ende die Waren zu den staatlich festgeschriebenen Preisen ausgegeben werden. Marta braucht vorgekochtes Maismehl für ihre morgendlichen Arepas (eine Art Fladenbrot), Speiseöl und Zucker. Noch weiß sie nicht, was es heute überhaupt zu kaufen gibt. „Schlangestehen müssen wir seit Jahren, das ist schon Gewohnheit, aber jetzt ist auch das Angebot katastrophal.“ Sie komme bald wieder, sagt sie den Leuten vor und hinter sich, sie müsse unbedingt in die Drogerie. Ob sie wieder in die Schlange gelassen wird, ist ihr Risiko.
Seit Juli 2011 reguliert in Venezuela das „Gesetz für gerechte Preise“ (Ley de Precios Justos) die Preise für Waren für den Grundbedarf. Fleisch, Eier, Reis, Maismehl, Teigwaren, Speiseöl, Zucker, Milch, Milchpulver, Kaffee und Hygiene- sowie Reinigungsartikel werden zu staatlich festgelegten Preisen verkauft. Im Mai gab es die letzten Preisanhebungen.
Drei Straßen weiter hat die Drogerie Farmatodo schon geöffnet. Die Schlange zieht sich durch die sechs Regalreihen. Marta stellt sich an. Nummern gibt es hier nicht. Auf knapp zwei Stunden kalkuliert sie die Anstehzeit. Ein Kilo Waschmittel, zwei Flaschen Shampoo und zwei Päckchen Binden pro Person werden zu regulierten Preisen verkauft. Marta strahlt. Shampoo! Und genau die Marke, die sie will! Der Einkaufstag beginnt erfolgversprechend.
Venezuela
Hauptstadt: Caracas
Fläche: 912.050 km² (fast elfmal so groß wie Österreich)
EinwohnerInnen: 30,93 Mio. (September 2015)
Rang 71 (von 188) des Human Development Index
Regierungsform: Präsidialdemokratie mit einer komplizierten Gewaltenteilung zwischen fünf Gewalten sowie zahlreichen Wahlen auf verschiedenen Ebenen. Der direktgewählte Präsident ist gleichzeitig nominelles Staatsoberhaupt und Chef der Exekutive.
Teilzeit-Job Einkaufen. Drei Tage die Woche geht die 35-jährige Alleinstehende einkaufen. Drei Tage die Woche arbeitet sie als Bürohilfe bei einem Rechtsanwalt. Das Gehalt reicht vorne bis hinten nicht. Also geht sie einkaufen. Für sich, ihre Schwester und ihre Eltern, die im Landesinneren wohnen. Dort sei das Angebot noch schlechter. Einmal in der Woche fährt ein Cousin zur Familie in die Provinz, mit vollen Taschen hin und mit den Bestellzetteln zurück.
„Meine Schwester arbeitet Vollzeit, meine Eltern sind schon älter, die können nicht drei Stunden für ein Stück Seife anstehen.“ Dafür zahlt die Schwester die Wohnungsmiete und die Eltern schießen ihr etwas zu. Nein, eine Bachaquera sei sie nicht. Sie verlange keine Wucherpreise. Und wenn ein Bekannter mal etwas braucht, dann kauft sie es eben mit.
Bachaquero war ursprünglich eine Bezeichnung für kleine Schmuggler im venezolanisch-kolumbianischen Grenzgebiet, abgeleitet von der dort lebenden Blattschneiderameise „Bachaco“, die ihre Last auf dem Rücken transportiert. Inzwischen hat sich der Begriff auf die halb- und vollprofessionellen SchlangesteherInnen vor den Einkaufsläden und Supermärkten ausgedehnt.
Nach einer Studie der Consultingfirma Ecoanalítica ist ein Fünftel der rund 15 Millionen erwerbsfähigen VenezolanerInnen als Bachaquero oder Bachaquera tätig. Rund zwei Drittel dieser drei Millionen in Teilzeit, das heißt sie gehen einer formellen Arbeit nach und verdienen sich als Käufer-WiederverkäuferInnen ein Zubrot. Ein Drittel hat den formellen Arbeitsmarkt gänzlich verlassen. Ein Bachaquero oder eine Bachaquera verdient durchschnittlich 120.000 Bolívares Fuertes (BsF) – ein Vielfaches des Mindestlohns im Monat. Was sich nach viel anhört, schrumpft allerdings bei einem Schwarzmarktkurs von über 1.000 BsF für einen US-Dollar auf rund 120 Dollar zusammen.
Einkommensgrundlage Schwarzhandel. Zwar verkündet die Regierung immer wieder, gegen Schmuggel und Schwarzhandel vorzugehen. Macht sie damit tatsächlich Ernst, entzieht sie knapp einem Fünftel der erwerbsfähigen Bevölkerung die Einkommensgrundlage. Um dem Schwarzhandel mit den preisregulierten Waren wenigstens etwas entgegenzuwirken, hatte sie im April lokale Komitees für Versorgung und Produktion, kurz CLAP, ins Leben gerufen. Wer Mitglied ist, kann direkt beim Komitee in seinem Stadtteil kaufen. „Ich hatte keine Chance“, sagt Marta. „Wer denen nicht regierungsfreundlich genug ist, kommt da nicht rein.“
Ruhig und geduldig geht es in der Schlange bei Farmatodo langsam voran. Man kommt ins Gespräch. Sie sei wegen des Waschmittels hier, sagt die Frau vor Marta. Er hatte auf Rasierklingen gehofft, sagt der Mann hinter ihr. Marta braucht unbedingt Shampoo. Tipps werden ausgetauscht. Die drei sind sich einig, dass es noch nie so schlimm war wie jetzt. Nach einer halben Stunde ist Waschmittel ausverkauft. Ohne zu klagen verlassen einige die Drogerie. Dann werden die letzten Shampoos verteilt. Marta geht leer aus. Feucht glänzen ihre Augen. An der Kasse zahlt sie 230 BsF für die zwei Päckchen Binden.
Zwei Stunden war sie in der Drogerie. Schnell läuft sie zurück zu Unicasa. Sie hat Glück, kann ihren Platz in der Schlange wieder einnehmen. Das preisregulierte Angebot des Tages hat sich herumgesprochen. Pro Person zwei Kilo vorgekochtes Maismehl, ein Liter Speiseöl und ein Dutzend Eier. Solange der Vorrat reicht. Wieder wird das Rollgitter am Eingang hochgeschoben, wieder kann eine kleine Gruppe hinein. Dann ist auch Marta dabei. Ein uniformierter Soldat überwacht die Verteilung.
Fingerabdruck gegen Wiederholungskäufe. In der Schlange zur Kassa geht es vorbei an den gefüllten Regalen. Das Angebot erscheint reichhaltig. Die Preise verhindern aber bei vielen das Zugreifen. Alles was nicht preisreguliert ist, ist um ein Vielfaches teurer. „Oft geht es eben nicht anders“, stöhnt Marta und greift nach einer Flasche Shampoo. „Zehnmal so teuer wie meine regulierte Marke bei Farmatodo.“ 540 BsF erscheint auf dem Kassendisplay, 190 BsF das Kilo vorgekochtes Maismehl, 36 BsF für das Speiseöl und 168 BsF für das Dutzend Eier. Die Ausweisnummer wird geprüft, dann werden die Daumenabdrücke gescannt und gespeichert. Das soll Wiederholungskäufe am selben Tag verhindern.
Allein an diesem Tag ist Marta sieben Stunden angestanden. Ja, wäre sie nach Petare auf den Schwarzmarkt gefahren, hätte sie alles in einer halben Stunde bekommen. „Aber zu horrenden Preisen.“
Markt der Ameisen. Um die Metrostation Petare weht einem das Angebot entgegen. Handtuch an Handtuch reiht sich entlang des Gehsteigs. Autos und Busse schieben sich lärmend voran. Um den kleinen Posten der Nationalgarde herum ist das Angebot noch wenig aufdringlich. Keine 50 Meter weiter schon stehen stapelweise Mehlpackungen, Waschpulverbeutel, Shampooflaschen, Windelpackungen und Bindenpäckchen auf den Handtüchern.
Er heiße Manuel, einfach nur Manuel. Heute hat er vorgekochtes Maismehl im Angebot. 2.200 BsF die Kilopackung. Ja, er hat heute schon einiges verkauft. Kaffee? „Den findest du heute hier nirgends.“ Warum? Weiß er nicht. „Mañana, si Dios quiere“, Morgen, wenn Gott will. Die Knappheit macht sich auch auf dem Markt der Bachaqueros bemerkbar.
Bachaquero, das Wort mag der 23-Jährige nicht. Spezialist für Ein- und Verkauf käme der Sache viel näher. Drei Tage die Woche steht er an den Supermärkten Schlange, zwei Tage an der Avenida. Es sei denn, es kommt ein Anruf. Er habe seine Kontakte zu den Angestellten der Supermärkte. Seit zwei Jahren ist Manuel im Geschäft. Sein Studium, Internationale Beziehungen an der Universidad Bolivariana de Venezuela, hat er aufgegeben. „Was willst du damit anfangen, wer nimmt einen von dieser Chavisten-Uni?“, habe ihn sein Bruder gefragt. Er solle ihm lieber beim Einkaufen helfen, leichte Arbeit, guter Verdienst.
Familienunternehmen. Sie wechseln sich ab, die ganze Familie ist dabei, Vater, Mutter, Bruder, Schwester und er. Gekauft wird alles, was staatliche Festpreise hat. Zu Hause haben sie immer ein gefülltes Lager. Und weil sie für alle Onkel und Tanten einkaufen, haben sie Ausweisnummern für alle Tage. Warum die Fingerabdrücke kein Problem sind, bleibt sein Geheimnis. „Aber wir stehen wie alle in der Schlange.“
Zwei Stunden anstehen für zwei Kilo vorgekochtes Maismehl, 380 BsF bezahlen und sie für 4.400 BsF verkaufen. Das rechnet sich. Vor wenigen Tagen gab es beim Supermarkt Plaza´s das Maismehl wieder einmal ohne Mengenlimit. 40 Kilo konnten sie einkaufen.
Ein Problem sei der Verkaufspreis. „Es weiß doch keiner, wie hoch die Inflationsrate ist, 500 Prozent, oder sind wir schon bei 700?“ Man schaue, was die anderen verlangen. Vor einigen Monaten verkaufte Manuel das Kilo Maismehl noch für 1.500 BsF. „Dann wurde es richtig knapp, und die Preise schossen nach oben.“ Shampoo kostet heute 2.000 BsF, ebenso das Waschpulver. Der Liter Speiseöl 3.200, Windeln 2.000 und die Binden 1.500 das Päckchen.
Relativ fest steht derzeit nur eines: Das Rechnen wird Marta und Manuel wohl auch in den nächsten Monaten oder Jahren nicht erspart bleiben.
Jürgen Vogt war viele Jahre Redakteur und Geschäftsführer der Lateinamerika Nachrichten in Berlin. Seit 2005 lebt er in Buenos Aires und ist u.a. Südamerika-Korrespondent der taz.
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