Die strittige Autonomiefrage in Bolivien wird nur durch Verhandlungen zu lösen sein, doch ist es fraglich, ob die Opposition dazu den Willen aufbringen wird, meint Lothar Mark*).
Die Verfassunggebende Versammlung Boliviens hat Ende 2007 eine neue Verfassung beschlossen. In ihr wird der „plurinationale“ Charakter des Landes festgeschrieben und der indigenen Bevölkerung werden die lange vorenthaltenen Rechte auf kulturelle Selbstbestimmung und territoriale Autonomie gewährt. Zudem sieht die Verfassung ein System „gemischter Wirtschaft“ aus privaten, staatlichen und kooperativen Wirtschaftsstrukturen vor und bindet Eigentum an soziale Funktionen. Die Ausarbeitung einer neuen Verfassung war zentrales Projekt des seit zwei Jahren amtierenden indigenen Präsidenten Evo Morales.
Im Laufe dieses Jahres wird die Bevölkerung über den Verfassungstext per Referendum abstimmen. Sollte er angenommen werden, wird es darauf ankommen, die in dem Schriftstück verankerten Vorgaben tatsächlich umzusetzen. Derzeit scheint fraglich, ob dies gelingen wird. Denn statt wie geplant zu einer Stabilisierung des Landes beizutragen, hat die Verfassung dessen Spaltung entlang regionaler, ethnischer und ökonomischer Konfliktlinien weiter vertieft.
Diese Konfliktlinien sind nicht erst mit der Regierungsübernahme der überwiegend im Hochland vertretenen Partei MAS („Bewegung zum Sozialismus“) entstanden. Schon bisher unterschieden sich Hoch- und Tiefland ökonomisch und ethnisch. Letzteres ist ressourcenreicher, wirtschaftlich prosperierender und weniger indigen geprägt. Von den Vorgängerregierungen wurden diese Unterschiede durch einen Pakt zwischen den politischen Eliten der Regionen überdeckt.
Mit der Regierungsübernahme der MAS begann Präsident Evo Morales einen ökonomischen Umverteilungsprozess, dem die überwiegend im Tiefland verankerten Oppositionsparteien ablehnend gegenüber stehen. Denn die dort erzielten Gewinne sollen in erheblich größerem Maße an den Zentralstaat und damit auch an die ärmeren, überwiegend indigen geprägten Provinzen des Hochlandes überführt werden. Nicht zuletzt deshalb stehen die Tieflandprovinzen dem Reformprojekt der MAS derart unversöhnlich gegenüber.
Die Spaltung des Landes spiegelte sich auch in den Wahlergebnissen zum Verfassungskonvent wider. Auch mit den Stimmen von regierungsnahen Parteien und Bündnissen konnte die MAS statt der angestrebten Zwei-Drittel-Mehrheit nur eine einfache Mehrheit erringen. Dies machte eine Zusammenarbeit mit den Oppositionsparteien unumgänglich. Dennoch versuchte sie zunächst, ihr Verfassungsprojekt im Alleingang zu verwirklichen. Erst als die Versammlung zu scheitern drohte, ließ sie sich auf Zugeständnisse an die Opposition ein. Diese zeigte sich jedoch in keiner Phase bereit, konstruktiv an der neuen Verfassung mitzuarbeiten, praktizierte eine systematische Blockadepolitik und blieb der Abstimmung über den Verfassungstext fern. Die regierungsnahen Delegierten nahmen das Schriftstück indes mit einer einfachen statt der zunächst vereinbarten Zwei-Drittel-Mehrheit an.
Man könnte argumentieren, dass der Entstehungsprozess der Verfassung hinter deren Inhalten zurücksteht. Die jüngsten Entwicklungen zeigen jedoch das Gegenteil. Mit Verweis auf das illegitime Zustandekommen der Verfassung riefen die Gouverneure der östlichen Departements einseitige Autonomiestatute aus, über die in den entsprechenden fünf Departements ebenfalls per Referendum abgestimmt werden soll. Das erste war für den 4. Mai in der Region Santa Cruz geplant. Dem entzog das von der MAS dominierte Parlament in einer strittigen Abstimmung, bei der oppositionellen Parlamentariern der Zugang zum Parlament versperrt wurde, die legale Grundlage. Das ursprünglich für September geplante Verfassungsreferendum wurde indes auf den 4. Mai vorgezogen. Ein Blick auf die Prognosen zu den geplanten Abstimmungen lässt die Zuspitzung der Situation erahnen: Es ist davon auszugehen, dass die Autonomiereferenden in den Tieflandprovinzen angenommen werden, das Verfassungsreferendum jedoch abgelehnt wird. Die Bevölkerung im Hochland wird sich vermutlich für die Verfassung aussprechen. Ein derartiges Ergebnis würde die Spaltung des Landes weiter vorantreiben.
Die Konfrontation wurde in der ersten Märzhälfte durch das Oberste Wahlgericht entschärft, das alle für Mai geplanten Referenden aus organisatorischen Gründen untersagte. Dies könnte eine Möglichkeit für die Konfliktparteien sein, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Morales hat mit seiner erneuten Aufforderung zum Dialog und dem Akzeptieren von internationalen Vermittlern im Konflikt einen wichtigen Schritt in diese Richtung unternommen. Nun liegt es an der Opposition, ihre Blockadepolitik aufzugeben und zu einer konstruktiven Art der Auseinandersetzung zurückzufinden. Letztlich wird die Autonomiefrage nur durch Verhandlungen zu lösen sein. Es ist aber fraglich, ob die Opposition den Willen dazu aufbringen wird, denn augenscheinlich geht es ihnen weniger um Autonomie als um die damit verbundenen wirtschaftlichen Vorteile.
Wenn die jüngsten Ereignisse jedoch eines gezeigt haben, dann, dass die Ausrufung von Referenden es den politischen Akteuren nicht abnehmen kann, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Entscheidungen an den Willen der Bevölkerung zurück zu binden ist für demokratische Systeme wichtig und notwendig. Was die Bevölkerung jedoch nicht leisten kann, ist die Konflikte der politischen Akteure zu lösen. Dies ist Aufgabe der demokratisch gewählten Repräsentanten.
*) unter Mitarbeit von Clarissa Heisig.
Lothar Mark ist Lateinamerika-Beauftragter der SPD-Bundestagsfraktion und zuständiger Berichterstatter im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages.
Clarissa Heisig studiert Politikwissenschaft und ist studentische Mitarbeiterin im Berliner Abgeordnetenbüro von Lothar Mark.