In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich in Indien ein boomender Medienmarkt entwickelt. Darin spiegeln sich die Widersprüche und blinden Flecken der bevölkerungsreichsten Demokratie der Welt.
Anfang Jänner 2013 starb eine 23-jährige Medizinstudentin aus Neu-Delhi an den schweren Verletzungen, die sie zwei Wochen zuvor bei einer Gruppenvergewaltigung erlitten hatte. Im September 2013 wurden vier der Täter zum Tode verurteilt. Im August 2013 wurde eine junge Fotojournalistin in Mumbai Opfer einer Gruppenvergewaltigung. Wenige Tage später wurden mehrere Verdächtige festgenommen. In beiden Fällen waren sich zahlreiche ExpertInnen in Indien einig: Die indische Justiz und die indische Polizei hätten nicht mit dieser Effizienz und dem für das Land ungewöhnlichen Tempo gehandelt, wenn die Medien nicht unablässig Druck gemacht hätten. Hervorgehoben wurde insbesondere auch die Rolle der 24/7-Fernsehkanäle. Nach dem Vorbild des US-Nachrichtensenders CNN berichten diese 24/7-Kanäle rund um die Uhr und bleiben mit ihren „Breaking News“, steten Aktualisierungen und vielen Diskussionsforen hartnäckig an bestimmten Themen dran.
Im Vergewaltigungsfall in Mumbai zeigte sich aber auch eine andere Seite der modernen Medien, vor allem der Social Media. Die Täter sollen die junge Journalistin davor gewarnt haben, zur Polizei zu gehen, andernfalls würden sie kompromittierende Fotos, die sie während der Tat gemacht hatten, über Internet und Facebook verbreiten. Die junge Frau ließ sich nicht einschüchtern. Ungewiss ist aber, wie viele andere Frauen sich von derartigen Drohungen schon von einer Anzeige nach einer Vergewaltigung haben abhalten lassen.
Im Herbst 2012 etwa griff die indische Frauenbewegung den Fall der jungen Dalit-Frau Reshma im Bundesstaat Haryana auf. Reshma hatte ihre Vergewaltigung verschwiegen. Dennoch verschickten die Täter Fotos über ihre Mobiltelefone. Als Reshmas Vater durch puren Zufall eines dieser Fotos zu Gesicht bekam, beging er Selbstmord. Erst dadurch gelangte der Fall an die Öffentlichkeit.
Die Rolle, die die Medien spielen, ist in Indien so ambivalent wie in allen Demokratien. Welchen Einfluss die 24/7-Kanäle in einzelnen Fällen wirklich haben, lässt sich natürlich nie hundertprozentig nachweisen. Selbst wenn das rasche Agieren von Justiz und Polizei nach den eingangs genannten Verbrechen den Medien (mit) zu verdanken wäre, bleiben schwerwiegende Fragen offen. Sie betreffen insbesondere klassen-, kasten- und ideologiebedingte Schwerpunktsetzungen und Blindheiten.
Zu den großen Kritikern der indischen Medienlandschaft gehört der Journalist Tarun Tejpal. Er gründete im Jahr 2000 Tehelka zunächst als Internetmagazin und dann als Wochenzeitschrift. Tehelka machte sich mit Sting Operations (verdeckten Ermittlungen) einen Namen und konnte mit seinem Aufdeckungsjournalismus unter anderem den Rücktritt mehrerer Politiker bewirken. In jüngster Zeit zeigte Tehelka in Interviews mit versteckter Kamera die Frauenfeindlichkeit auf, die bei der indischen Polizei vorherrscht. Mehrfach hat Tarun Tejpal aber auch feststellen müssen, wie die brisanten Ergebnisse eines engagierten Journalismus einfach übergangen und damit wirkungslos gemacht werden können. Oder aber, wie sich der Staat gegen kritischen Journalismus zur Wehr setzt. Als Tehelka-Redakteure 2001 fragwürdige Waffengeschäfte des Militärs aufdeckten, musste der damalige Verteidigungsminister zurücktreten. Gegen die Redakteure aber wurde eine Kampagne von Verleumdungen, Hausdurchsuchungen und sogar Verhaftungen losgetreten.
„Indien und die Demokratie sind für einander gemacht. Beide sind dazu da, eine Million Meutereien und eine Milliarde Argumente zu integrieren“, schrieb Tarun Tejpal vor einigen Jahren in einem Leitartikel von Tehelka. Ob die Medien ihrer Aufgabe in der Demokratie gerecht werden, ist eine andere Frage.
Indien mit seinen 1,2 Milliarden EinwohnerInnen verfügt laut dem Statistischen Jahrbuch 2013 über mehr als 77.000 Printmedien, darunter 9.355 Tageszeitungen. Inzwischen gibt es mehr als 500 Satellitenkanäle in den beiden Nationalsprachen Hindi und Englisch sowie in einer Reihe von Regionalsprachen. Mehr als 80 davon sind Nachrichtenkanäle. NDTV 24×7 ist einer von Indiens erfolgreichsten englischsprachigen Nachrichtenkanäle. NDTV 24×7 sowie auch die englischsprachigen Sender Headlines Today und CNN-IBN haben jeweils einen parallelen Sender in Hindi – NDTV India, Aaj Tak und IBN 7. Star News und Zee News sind weitere bekannte Kanäle. Die privaten Medien, ob Fernsehen oder Print, befinden sich mehrheitlich in Händen von Großindustriellen. Häufig handelt es sich um Familienunternehmen, die eine Reihe von Medien in unterschiedlichen Sparten besitzen.
Unter den Printmedien erreichen die Hindi-sprachigen Tageszeitungen Dainik Bhaskar und Dainik Jagran die größten Auflagen (2,3 bzw. 2,1 Mio). Tageszeitungen in Hindi, das von mehr als 40 Prozent der Inderinnen und Inder gesprochen wird, haben einen Marktanteil von 37 Prozent, englischsprachige von 17 Prozent. Das Wochenmagazin India Today bringt Ausgaben in Englisch, Hindi und mehreren Regionalsprachen heraus, Outlook hat eine Ausgabe in Englisch und Hindi. Zeitweise handelt es sich um Übersetzungen, und die Informationen sind deckungsgleich. Bisweilen werden die Ausgaben aber ganz auf den regionalen Markt zugeschnitten und daher unterschiedliche Themen aufgegriffen.
Diese Medienvielfalt ist im Wesentlichen eine Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte. Den Anstoß gab die Ende der 1980er Jahre vorsichtig, ab 1991 dann rasant eingeleitete Liberalisierung der Wirtschaft. Noch 1991 begann Rupert Murdochs Satellitenunternehmen STAR TV von Hongkong aus auch nach Indien zu senden, bald darauf erhielten auch indische Kabelanbieter Zugang zu den Programmen von Star TV. Doordarshan, das staatliche Fernsehen, das 1959 als Monopol eingeführt worden war, sah sich damit einer wachsenden Konkurrenz gegenüber. Heute soll das Fernsehen mehr als 120 Millionen indische Haushalte erreichen, wobei Zahlen in Indien oft widersprüchlich und mit Vorsicht zu behandeln sind. Bei Printmedien ist zwar die Auflage bekannt, LeserInnenzahlen sind aber schwer abzuschätzen, da Zeitungen und Magazine häufig im Verwandtenkreis und in der Nachbarschaft weiter gereicht werden.
Ein Urteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 1995 führte 1997 zur Gründung von Prasar Bharati, der Broadcasting Corporation of India, einer autonomen Körperschaft des Öffentlichen Rundfunks. Im Zuge des Prasar Bharati-Gesetzes wurden dann auch private Radiolizenzen vergeben. Seit einigen Jahren sind auch Lizenzen für Community Radio leichter zu erhalten. Gerade in den entlegeneren ländlichen Regionen spielt das Radio weiterhin eine große Rolle.
Das Internet soll derzeit von knapp 140 Millionen InderInnen genutzt werden, mehr als 70 Prozent davon leben in Städten. Von den Social Media machen knapp über 60 Millionen InderInnen Gebrauch. Diese Zahlen sind in jüngster Zeit aber stark gestiegen, und ExpertInnen rechnen mit einer raschen Ausbreitung dieser Medien in naher Zukunft.
Sorgen bereitet vielen aber die Qualität der Medien und deren Kommerzialisierung. Der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen zeigte kürzlich in einem Artikel auf, wie in mehreren Fällen seine Aussagen von diversen Medien nicht nur verzerrt, sondern auch völlig widersprüchlich dargestellt wurden. Das Centre for the Study of Developing Societies, ein renommierter Think Tank in Neu Delhi, veröffentlichte 2006 eine Studie, der zufolge 90 Prozent aller Entscheidungsträger in englischsprachigen Printmedien und 79 Prozent in den TV-Sendern hohen Kasten angehören. Dalits, wie sich die ehemals Unberührbaren heute nennen, sind kaum vertreten, obwohl sie rund 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
KritikerInnen werfen diesen Medien daher vor, dass sie bei ihrer Berichterstattung vor allem die Interessen der städtischen Mittelklassen vertreten und die Lage der Armen und Marginalisierten vernachlässigen. Entsprechende Analysen zu den Medien in Hindi und den Regionalsprachen fehlen. Auch die Rolle, die die steigende Zahl an religiös orientierten TV-Sendern spielt, ist noch nicht genügend untersucht. Ebenso mangelt es an aussagekräftigen Studien zum Einsatz von Social Media bei NGOs und Bürgerbewegungen. Das Mobiltelefon hat zweifelsohne die Vernetzung erleichtert. SMS und MMS werden aber zunehmend auch für unlautere Zwecke genutzt. So lief im Sommer 2012 eine landesweite Hetzkampagne gegen MigrantInnen aus dem Nordosten Indiens über Droh-SMS und MMS. Zehntausende MigrantInnen kehrten fluchtartig in den Norden zurück.
Der boomende Medienmarkt ist unabdingbar für die indische Demokratie, doch die Bruchlinien dieser Demokratie spiegeln sich permanent auch in den Medien wider.
Brigitte Voykowitsch ist freie Journalistin mit Spezialisierung auf Indien. Sie lebt in Wien.
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