Der Kulturanthropologe Andre Gingrich ist einer der beiden Wittgenstein-Preisträger des Jahres 2000. Mit ihm sprach SÜDWIND-Redakteurin Irmgard Kirchner über die Zukunft der Kulturen.
SÜDWIND: Inwieweit ist diese Auszeichnung für Sie als Forscher auch eine Auszeichnung der Disziplin der Kulturanthropologie?
Gingrich: In mindestens demselben Ausmaß. Sie würdigt die wachsende Bedeutung einer Disziplin, die bisher im intellektuellen und akademisch-wissenschaftlichen Bereich eher randständig war, zumindest was den deutschsprachigen Raum betrifft. In den achtziger und neunziger Jahren hat die Ethnologie oder Kulturanthropologie allmählich an Bedeutung gewonnen. Heute gilt sie als eine der wichtigen Zukunftsdisziplinen.
Welchen Beitrag kann die Kulturanthropologie zum Beispiel in der aktuellen Globalisierungsdebatte leisten?
Von Anfang an ging es sowohl um das Intime, Lokale, als auch um den Blick auf die großen menschheitsumspannenden Fragen. Heute ist diese Verbindung wichtiger als sie früher war. Die großen anderen Disziplinen haben sich in viel stärkerem Ausmaß auf den Staat als Bezugsrahmen konzentriert: Für die Ethnologie war diese Sichtweise einfach kein Hauptanliegen, abgesehen von der kolonialgeschichtlichen Forschung oder Fragen von Minderheitenrechten. Diese lokal-globale Konstellation ist heute auf einmal für eine ganz breite Öffentlichkeit interessant.
In der Globalisierungsdebatte taucht immer wieder das Szenario einer Welt-Einheitskultur auf.
Ein großer Teil der Linken, die die immer größer werdende Macht des Kapitalismus und Imperialismus anspricht, hat über lange Jahre hinweg genau diese Konsequenz aus ihren Überlegungen gezogen. Ein großer Teil der Befürworter des Neoliberalismus kommt seit den achtziger Jahren zu denselben Schlüssen. Dass weltweit die Allmacht der Finanzmärkte, der großen Banken und der multinationalen Konzerne alles andere überwiegt und niederwalzt, ist im Prinzip eine zutiefst kulturpessimistische Konsequenz.
Daneben gibt es auch noch die extreme Gegenposition, die im Grunde genommen auch kulturpessimistisch ist: den radikalen Nationalismus.
Der sagt, im Prinzip sei jede Kultur singulär und nur für ihre Angehörigen verständlich. Und die völlig singulären, in sich geschlossenen Kulturen würden sich siegreich gegen die sie bedrängenden Mächte der Finsternis aufbäumen. Ich halte beide Positionen für falsch, nicht nur weil sie radikal und politisch gefährlich sind, sondern auch, weil sie wissenschaftlich nicht haltbar sind.
Ein Beispiel: McDonald’s hat in einem kleinen Fürstentum am arabisch-persischen Golf das weit und breit erste Lokal eingerichtet. Neben vielen anderen Vorteilen ist es der einzige Treffpunkt, wo sich junge Menschen außerhalb ihrer Privathäuser treffen können. Die bloße Einrichtung eines McDonald’s kann unter Umständen also demokratiepolitisch ein Fortschritt sein. Der Kern der Sache: Die lokalen Auswirkungen ein und der selben Facette der Globalisierung und der Umgang mit ihr können ganz verschieden sein. Ein Pessimismus über die Gestaltungsmöglichkeiten der lokalen Akteure ist völlig unberechtigt.
Teilen Sie die Ansicht, dass die Tendenz in Richtung kulturelle Verarmung geht, nicht?
Die Gefahr ist schon da. Aber es ist immer die Frage, ob man sich dieser Tendenz hingibt oder ihr entgegensteuert. In vielen Bereichen ist das Gegensteuern möglich.
Was sind die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale von Kulturen?
Aus meiner Warte ist Kultur eine Frage der kleinen Differenzen. Sie sollen aber auch nicht hinwegdiskutiert werden. Dies kann nämlich sehr leicht zu der Meinung führen: Alle Menschen sind gleich – so gleich wie wir. Kultur ist eine kleine Differenz wie viele andere. Sie ist ähnlich zu gewichten wie die Differenzen innerhalb einer Kultur.
Die wichtigsten Unterschiede liegen auf zwei Ebenen: auf der expliziten Ebene, die verbalisiert und von den Akteuren bewusst gelebt wird. Auf der impliziten, internalisierten Ebene liegt jene im selbstverständlich erscheinenden Alltag eingebettete Form von Differenz. Explizite Differenzen sind Glaubensvorstellungen, Weltbilder – religiöser, aber auch nichtreligiöser Art -, Rechtsvorstellungen, Moralvorstellungen – mit Elementen zu den Geschlechterbeziehungen, zum Umgang mit Fremden und Minderheiten, zum Umgang mit der eigenen Umwelt. Nicht alles an lokalen Kulturen ist gut. Da gibt es überall Kritisierenswertes.
Implizite Differenzen betreffen die körpernahen Elemente: Sexualität, Grüßen, Alltagsrituale, Speisevorschriften und so weiter. Die großen und kleinen Rituale sind wahrscheinlich die besten Angelpunkte, um die kleinen Unterschiede zwischen den Kulturen zu verstehen.
Wie schaut ein modernes Weltbild aus?
In dieser Diskussion hat sich einiges getan. Der Kern ist, dass Unterschiede zwischen den Kulturen nicht im Bereich der physischen Anthropologie oder primär im Bereich der Sprache festgemacht werden, wie es frühere Denkschulen geglaubt haben. Weltbilder markieren im wesentlichen vorherrschende, mit Macht unterlegte Denkmuster, die in einer Gesellschaft oder Gruppe von Gesellschaften mehr oder minder unterschiedlich und mehr oder minder freiwillig geteilt werden. Weltbilder sind umstritten und können sich ändern. Aber sie sind nicht nur herrschaftslegitimierendes Denken.
Können Sie ein Beispiel für ein solches Weltbild geben?
Wenn man es sehr weit fassen will, dann teilt eine Mehrheit der westlichen Industriegesellschaften zum Beispiel folgendes Weltbild: „Es gibt jenseits der Menschheit keine höheren Wesen, die mit nichtmenschlichen Kräften ausgestattet sind und die das Wirken der Menschheit irgendwie beeinflussen. Es macht daher auch keinen Sinn, mit solchen anderen höheren Wesen zu kommunizieren. Die Menschen machen ihr Leben und ihre Geschichte selbst. Alle Menschen sind erstens gleich und zweitens sind sie Individuen.“
Dieses säkuläre, egalitäre und individualistische Weltbild des Westens wird von der Mehrheit der Menschheit nicht geteilt. Unser Weltbild ist aber uns selbst so selbstverständlich, dass wir es nur in der Begegnung mit anderen Kulturen wahrnehmen.
Der Westen sieht sich als die Krönung der Entwicklung und geht davon aus, dass alles in seine Richtung führen wird.
Deswegen ist ein evolutionistischer Theorie-Zugang aus meiner Warte so lange klar abzulehnen, so lange nur eine Entwicklungsperspektive eröffnet wird, nämlich die, die hin zum Modell der westlichen Industriegesellschaft führt. In alternativen Entwicklungswegen ist auch ein Bewahren und Verändern der eigenen kulturellen Kontexte angelegt. Da muss es nicht zwangsläufig zu einer fortschreitenden Säkularisierung kommen, nicht nur aus Gründen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, sondern auch aus emotionalen Gründen: Das Religiöse und das Rituelle sprechen immer auch das Herz und die Gemüter der Menschen an und sind daher nicht wegzudenken.
Welche Weltbilder können sich gegen das westliche gut behaupten?
Die großen verschrifteten und nicht-verschrifteten religiösen Traditionen der Welt sind eigentlich nur zum Teil unter Druck geraten und nur da und dort vom Verschwinden bedroht. Zugleich gibt es auch überall die gegenläufige Bewegung: Der Buddhismus etwa breitet sich weltweit aus, nicht nur in seinen Herkunftsregionen in Zentral-, Süd- und Südostasien, sondern auch in Europa und Nordamerika. Auch der Islam gewinnt weltweit neue Anhängerschaften, nicht nur aus Gründen der politischen Mobilisierung für islamistische Strömungen.
Unter den nicht-verschrifteten Traditionen breitet sich zum Beispiel Voudon von seiner ursprünglichen Heimat Westafrika in die Karibik und in andere Regionen der Welt aus. Zum Teil ist das sicher eine örtliche Form von Gegenreaktion auf die Globalisierung in geistiger und sozialer Hinsicht. Es ist aber auch Ausdruck einer Suche nach alternativen Entwicklungswegen.
Wo liegen Ihre zukünftigen Forschungsschwerpunkte?
Bei der Frage, welche Entwicklungs- und Weiterentwicklungsperspektiven sich für lokale Kulturen in Zeiten der zunehmenden überlokalen Einflüsse ergeben.
Ich beschäftige mich intensiv mit den neuen Konflikten nach dem Ende des Kalten Krieges. Weiters forsche ich auch zur Frage der neuen Nationalismen am Rande Europas, aber auch innerhalb von EU-Europa. Es ist kein Zufall, dass die europäischen Länder, in denen die Neonationalismen besonders stark sind, zu den reichsten Ländern der Welt gehören: Dänemark, Norwegen, Österreich, Schweiz …, kleine, reiche Länder … – da geht es um Phänomene wie Wohlstandschauvinismus und Kulturpessimismus. Die großen Arbeitslosenmassen sind es offenbar nicht, wie in den zwanziger Jahren, die da nationalistisch wählen.
LITERATURHINWEIS
Andre Gingrich:
Erkundungen – Themen der ethnologischen Forschung
Böhlau Verlag, Wien 1999, 310 Seiten, öS 398,-
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